Stipendiat
Neven Allgeier
Der Fotograf Neven Allgeier (* 1986, Wiesbaden) lebt und arbeitet zwischen Frankfurt am Main und Wien. In den letzten Jahren publizierte er zwei Bücher beim Distanz Verlag: Porträts (2021) bildet eine neue Generation von Künstler:innen ab. In Fading Temples (2022) treffen seine Landschaftsbilder auf Porträtaufnahmen junger Kulturschaffender. Letztgenannte Veröffentlichung bildete die Vorlage für seine Einzelausstellungen Two heavens as one im Kunsthaus Göttingen (2024) und Drown in Dreams im Nassauischen Kunstverein Wiesbaden (2024). Allgeiers Arbeiten sind regelmäßig in Medien wie dem ZEIT Magazin oder SPIKE Art Quarterly zu sehen und waren Teil von Gruppenschauen unter anderem im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt am Main, dem Pera Museum Istanbul sowie dem Bonner Kunstverein. Seine dritte Publikation beim Distanz Verlag, A Hole in the Sky, erscheint diesen November. Allgeier wurde 2024 mit einem Residenzstipendium der Hessischen Kulturstiftung für Istanbul ausgezeichnet.
Hessische Kulturstiftung (HKST) Du bist in den letzten Jahren wiederholt nach Istanbul gereist, um Akteur:innen der dortigen jungen Kulturszene zu porträtieren; zuletzt hast Du zu eben diesem Zweck einige Monate im Istanbuler Stiftungsatelier verbracht. Was reizt Dich gerade an dieser Stadt und ihren Akteur:innen?
Neven Allgeier Istanbul übt auf mich tatsächlich schon seit einer längeren Zeit eine sehr starke Anziehungskraft aus. Begonnen hat dies 2018 mit einer ersten Arbeitsreise für ein Magazin, für das ich mehrere Protagonist:innen der lokalen Kulturszene porträtieren und kennenlernen durfte. Aus dieser Arbeitsreise entwuchsen erste Freundschaften und Verbindungen, die sich mit jedem Aufenthalt weiter intensivierten. Darüber hinaus wurde mir bei jedem Besuch mehr und mehr die kulturelle Komplexität dieser Stadt bewusst, mit ihren über Jahrhunderte gewachsenen Schichten und den Einflüssen verschiedenster Bevölkerungsgruppen bis in die Gegenwart.
Während meiner Aufenthalte, zuletzt im Rahmen des Residenzstipendiums, habe ich viele Gespräche geführt: über politische Umbrüche, wachsende wirtschaftliche Unsicherheit und ein Gefühl von Instabilität. Es gibt eine spürbare Erschöpfung, immer wieder verbunden mit der Frage, ob man bleiben oder gehen sollte. Was mich inmitten dieser fragilen Lage fasziniert, ist der Mut vieler Menschen, dennoch Sichtbarkeit und Ausdrucksräume zu schaffen, sowohl für sich als auch für andere. In nicht-kommerziellen Kunsträumen, queeren Clubs oder temporären Kollektiven entsteht eine Energie, die mich sehr beeindruckt. Sie ist durchzogen von Dringlichkeit und dem Wunsch nach Selbstbestimmung, aber auch von Fürsorge und solidarischem Miteinander.
HKST Siehst du deine Bildwelten – ob in Istanbul oder an anderen Orten entstanden – eher als persönliche Reflexion oder als gesellschaftlichen Kommentar?
Allgeier Ich denke, es ist zu einem gewissen Teil unvermeidbar, dass meine Bilder einen großen Anteil persönlicher Reflexion in sich tragen. Durch die Zusammenstellung unterschiedlicher Motive schaffe ich häufig sogar bewusst neue Narrative, die sich von einem rein dokumentarischen Ansatz abgrenzen und Subjektivität sowie verschiedene Lesarten in den Vordergrund rücken.
Gleichzeitig beginnt bereits im Auswahlprozess der Porträtierten auch ein gemeinschaftlicher Aspekt. Eine wesentliche Eigenschaft meiner fotografischen Praxis ist, dass ich die Auswahl nicht nach vermeintlicher Wichtigkeit treffe, wie etwa aufgrund einer großen Social-Media-Reichweite oder – mit Blick auf fotografierte Künstler:innen – einer institutionellen Präsenz. Vielmehr suche ich den organischen Zugang zu lokalen Strukturen und lege auf Basis von Gesprächen und Empfehlungen wechselnder lokaler Akteur:innen fest, wer porträtiert wird. Zum einen möchte ich so meine Entscheidungsmacht als außenstehender Beobachter aufbrechen und insbesondere in soziokulturell prekären Kontexten nicht aneignend handeln. Zum anderen strebe ich Arbeiten an, die einen offenen Begriff von Autorschaft transportieren und die Perspektiven sowie Gedanken vieler Personen widerspiegeln.
In der Gesamtheit der Bilder steckt zweifelsohne ein politisches Statement und ein klarer Bezug zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Themen. Ich bemühe mich jedoch, den Betrachter:innen keine vorgefertigten Antworten zu liefern, sondern Räume zu öffnen, in denen sie eigene Deutungen und Bedeutungen finden können. Gerade in diesem Prozess sehe ich die Chance, Diversität und Komplexität im Blick auf eine Situation erfahrbar zu machen.
HKST Du stellst Deinen Porträts mitunter Stadt-, Landschafts- oder nahsichtige Naturaufnahmen zur Seite. Mit ihren glühenden Sonnen, diffusen Lichtverhältnissen und oft schrägen Horizontlinien zeigen sie eine geradezu romantisch gefärbte, dabei beunruhigend fragile Welt. Was reizt Dich an diesen Zusammenstellungen?
Allgeier Die menschenleeren Szenerien, die ich den Porträts gegenüberstelle, nenne ich Environments. In diesen Bildern lote ich eine Ambivalenz aus, die sich zwischen fast märchenhaft verklärtem Naturerlebnis und Dystopie bewegt. Elementar ist in diesen Bildern die Lichtstimmung. Oft sind die Szenerien lichtdurchflutet und es ist unklar, ob es sich bei der Hauptlichtquelle um eine auf- oder untergehende Sonne handelt. Die dadurch erzeugte, emotional aufgeladene Grundstimmung lässt offen, ob man am Anfang oder am Ende von etwas steht. Zusätzlich gibt es in jenen Szenerien, die im ersten Moment als schön oder beinah kitschig gelesen werden können, immer wieder bewusst gesetzte Brüche, die zwar sehr zufällig oder harmlos wirken können, aber unterschwellig die Idylle stören und auf Themen wie Klimawandel und zunehmende Umweltkatastrophen verweisen.
In meiner Publikation Fading Temples (2022) sowie zuletzt in der Ausstellung Drown in Dreams im Nassauischen Kunstverein Wiesbaden (2024) habe ich Porträts und Environments, die nicht am selben Ort entstanden sind, zu Bildpaaren verbunden. Die einzelnen Bilder lösen sich in der Zusammenschau ein Stück weit aus der Realität des festgehaltenen
Einzelmoments und schließen sich zu einem neuen Wirklichkeitsraum zusammen: ein Raum, der sich dem entzieht, was wir gemeinhin als „normal“ begreifen. Im Zusammenspiel beider Bildgattungen können die Environments trotz ihrer ästhetischen Eigenständigkeit auch als Projektionsflächen oder Bühnen für die jeweiligen Protagonist:innen gelesen werden.
Die Publikation A Hole in the Sky, an der ich während meiner Zeit in Istanbul intensiv gearbeitet habe, greift diesen Ansatz auf, bricht damit jedoch zugleich. In mehreren fotografischen Kapiteln, jeweils bestehend aus vier bis zwanzig Bildern, werden Porträts und Environments kombiniert, zwischen denen ein örtlicher, zeitlicher oder situativer Zusammenhang bestehen kann. Sie treten dadurch in einen vergleichsweise direkten Dialog. Durch diese kontextuell begründete Kombination beider Bildtypen und die klare Abgrenzung der Kapitel zueinander entstehen Bildfolgen, die sich wie Filmschnipsel oder visuelle Gedichte lesen lassen. Sie laden die Betrachter:innen ein, in ein narratives Fragment einzutauchen.
HKST Viele Deiner Fotografien – ob Porträts oder Environments – haben aufgrund ihrer weichen, stimmungsvollen Farbigkeit eine fast malerische Wirkung. Inwieweit schöpfst Du Inspiration aus der Malereigeschichte?
Allgeier Die Malerei war von Anfang an ein prägender Einfluss für mich. Ich kehre in Gedanken immer wieder zu den ersten Momenten zurück, in denen mich Bilder berührt haben. Farbigkeit, Komposition und vor allem die emotionale Aufladung bestimmter Werke faszinieren mich bis heute. Einer meiner frühesten Berührungspunkte mit der Malerei war der europäische Expressionismus, insbesondere in Arbeiten von Edvard Munch, Max Beckmann und Ernst Ludwig Kirchner. Ihre subjektive Sicht auf die Welt und die Darstellung von Menschen in der Natur haben mein eigenes Sehen nachhaltig geprägt. Diese Verbindung zur Malerei blieb über die Jahre lebendig und wurde durch zeitgenössische Positionen aus der jüngeren Kunstgeschichte sowie meiner Generation zunehmend erweitert.
HKST In A Hole in the Sky verbindest Du Deine Fotografien mit Textbeiträgen verschiedener Autor:innen. Wie verhalten sich Bild und Text zueinander?
Allgeier Die fotografischen Kapitel, aus denen sich A Hole in the Sky zusammensetzt, werden von insgesamt 21 freien Textbeiträgen durchbrochen, verfasst von 14 Autor:innen. Zwischen Bildern und Texten besteht kein direkter Zusammenhang, etwa in Form einer Bildbeschreibung, sondern vielmehr eine atmosphärische Verknüpfung. Die Fotografien und die Textbeiträge sind einander hierbei insofern verwandt, als sie den subjektiven Blick eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen auf eine komplexe, sich konstant verändernde Welt teilen. Gerade in dieser Fragmentierung und in der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Stimmen liegt für mich ein zentrales Potenzial der Publikation. Diese Vielschichtigkeit soll sowohl Verbindungen und Überschneidungen zeigen als auch das Bewusstsein dafür widerspiegeln, dass es viele verschiedene Antworten auf dieselbe Frage geben kann.
Mir war wichtig, dass die Textbeiträge sich frei zwischen essayistischem, erzählerischem und lyrischem Schreiben bewegen. Gleichzeitig sollten sie aus unterschiedlichen Näheverhältnissen zum Projekt heraus entstehen: Sie stammen von befreundeten oder geschätzten Kolleg:innen ebenso wie von Schreibenden mit biografischem Bezug zu den Orten, an denen ich fotografiert habe. Einige der Autor:innen tauchen auch in den Porträts auf, allerdings wird dies nicht entsprechend gekennzeichnet.
HKST Du hast erzählt, dass Du während Deines Residenzstipendiums neue Impulse aufgenommen hast, die Du gerne weiterverfolgen möchtest, etwa mit Blick auf die Lichtstimmungen und Farbigkeiten Deiner Fotografien oder hinsichtlich einer weniger starken Inszenierung der Porträtierten – könntest Du das konkretisieren?
Allgeier Wie vorhin schon angerissen, habe ich im Entstehungsprozess von A Hole in the Sky begonnen, mich immer wieder von der inszenierten Porträtsituation zu lösen und mit einem stärker beobachtenden, fast dokumentarischen Blickwinkel zu arbeiten. Viele der Aufnahmen, auch die Einzelporträts, sind aus Gruppensituationen heraus entstanden. Diese sozialen Dynamiken sichtbar werden zu lassen, interessiert mich zunehmend, gerade auch in Bezug auf Körpersprache, Blicke und atmosphärische Zwischenräume.
Und auch technisch ist die Bandbreite größer geworden: Ich arbeite deutlich mehr mit Umgebungslicht, verzichte häufiger auf Blitzlicht und lasse so die Lichtsituationen fluider und uneindeutiger werden. Besonders reizt mich dabei eine bläuliche, diffuse Lichtstimmung, die sich weniger klar verorten lässt und den Bildern eine eigene Offenheit und Melancholie gibt.








