© Özlem Günyol & Mustafa Kunt 2017
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stipendiaten
özlem günyol & mustafa kunt

Die Ideen für ihre Arbeiten kommen zu ihnen, sagen sie, und dann beginnt das Ringen um eine ästhetische Form, die für beide Künstler stimmig sein muss. Özlem Günyol (*1977) und Mustafa Kunt (*1978) arbeiten seit 2007 zusammen in Frankfurt am Main. Sie haben an der Hacettepe Üniversitesi in Ankara studiert und an der Frankfurter Städelschule abgeschlossen, Günyol als Meisterschülerin bei Ayşe Erkmen, Kunt bei Wolfgang Tillmans.

In ihren Arbeiten zu gesellschaftspolitischen und historischen Themen untersuchen sie die Bedeutung von Sprache und Symbolen in kulturell unterschiedlichen Diskursen von Macht und Autorität. Für ihre künstlerisch präzise austarierten und medial vielseitigen Installationen mit skulpturalen Objekten, Print, Video und Zeichnung wurde das Künstlerduo bereits mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem von der Stiftung Kunstfonds gestifteten HAP-Grieshaber-Preis 2017 der VG BILD-KUNST.

Ihr ursprüngliches Stipendiumsprojekt, das sich mit der Problematik der Migrationsrouten von Tunesien nach Sizilien beschäftigen sollte, wurde von der Realität der vor dem Krieg in Syrien flüchtenden Millionen Menschen im Sommer 2015 eingeholt. Günyol und Kunt haben sich dieser aktuellen Situation gestellt und sich auf eine ungeplante Reise begeben, über die sie im Folgenden berichten.

Where am I? As if in a dream… Did we arrive? (2016) ist eine der während ihres Stipendiums entwickelten künstlerischen Arbei­ten. Sie besteht aus einer Sitzfläche für den öffentlichen Raum, die die lineare Form der Reiseroute einer Syrerin nach Europa nachvollzieht. Die Installation wurde im Rahmen des Wettbewerbs Kunstpfad Mainvorland der Stadt Rüsselsheim ausgewählt und realisiert. Sie wird in den kommenden Wochen am Mainufer unterhalb der Opelvillen in Rüsselsheim montiert werden.

Weitere neue und ältere Arbeiten von Özlem Günyol und Mustafa Kunt sind ab September in der Präsentation der 19. HAP-Grieshaber-Preisträger in Kooperation mit dem Deutschen Künstlerbund e. V. zu sehen.

 

Özlem Günyol und Mustafa Kunt: Das Projekt
Als wir an unserem Projektvorschlag Mare Nostrum (Unser Meer) für die Hessische Kulturstiftung schrieben, war die Rettungsaktion Mare Nostrum der italienischen Marine in vollem Gange. Doch 2014 endete diese Operation und Frontex begann mit einer neuen Aktion namens Operation Triton. Zu diesem Zeitpunkt und besonders Ende August 2015 gewann der Flüchtlingsstrom an Ausmaß, viele Menschen versuchten, nach Griechenland zu kommen. Gleichzeitig befanden sich Millionen von Menschen, die dem Krieg in Syrien entkommen waren, bereits in der Türkei. Da nach türkischer Rechtsdefinition nur Leute aus dem Westen den Asylstatus erhalten können, wurde diesen Menschen ein „Gast“-Status zuerkannt. Doch Gast zu sein, bedeutet, dass man von dir erwartet, den Besuchsort nach einer Weile wieder zu verlassen. Das Wort „Gast“ schafft eine unsichere Situation für den Status dieser Menschen. Daher begannen sie, die Türkei in der Hoffnung auf eine bessere und sichere Zukunft zu verlassen.

Als all das geschah, beschlossen wir, unser (der Stiftung bereits vorgelegtes) Projekt Mare Nostrum nicht weiter zu verfolgen und mit der ‚neuen Situation‘ aktiv umzugehen. Nach diesem Einschnitt hatten wir, anders als Empfänger eines normalen Reisestipendiums, kein spezifisches Reiseprojekt mehr. In unserem Fall hatte die Reise selbst das/die Projekt/e zu erschaffen.

Die Reise
Wir beschlossen, zu Beginn nach Dikili (Türkei) zu reisen. Viele Migranten wählten Dikili als Ort, um mit dem Boot nach Lesbos zu kommen, Dikili liegt auf dem Festland nah gegenüber der Insel.
Dikili ist auch die Stadt, in die durch den EU-Deal mit der Türkei Migranten im Frühjahr 2015 von Griechenland in die Türkei zurückgebracht wurden.

Während unseres Aufenthaltes sprachen wir mit den Bewohnern von Dikili über die aktuelle Situation. Diese Erfahrungen waren aus verschiedenen Gründen interessant. Wir beobachteten, dass an fast jedem Abend die türkische Küstenwache das Meer auf Grenzübertritte absuchte. Zwischenzeitlich hatten wir ein Boot entdeckt, das in einem der kleinen Häfen im Stadtinneren lag. Dieses Boot war von der türkischen Küstenwache angehalten worden, als es die Grenze zu Lesbos überqueren wollte. Uns wurde gesagt, dass die Küstenwache das Leben der Menschen im Boot rettete und das Boot selbst auf dem Meer beließ. Kurz danach krachte das Boot an die Riffe; erst danach wurde es an Land gebracht.
Nach diesen Vorfällen wurde in Dikili lebhaft diskutiert, wie der Deal der EU und der Türkei mit der türkischen Innenpolitik zusammenhing. Dikili ist ein politisch linksgerichteter Ort. Die türkische Regierung schlug den Bau eines Flüchtlingslagers in Dikili vor. Dieser Vorschlag wurde gemacht, so die Bewohner, um die Demografie der Stadt zu verändern.

Nach einem dreiwöchigen Aufenthalt in Dikili gingen wir nach Ayvalık, um ein Schiff nach Lesbos zu nehmen. Während unserer Zeit auf Lesbos waren wir im Moria Flüchtlingslager, das ist das größte Camp aller griechischen Inseln, es beherbergt etwa 3000 Menschen. Wir besuchten auch das Karatepe Flüchtlingslager, es nimmt etwa 400 Menschen auf, meistens Familien. Es war nicht möglich, das Moria Flüchtlingslager zu betreten, aber nach langen Gesprächen wurde es möglich, für eine kurze Zeit in das Karatepe Lager zu kommen.

Im Lager
Mit dem Eintritt ins Lager stellte sich für uns sofort die Frage nach der Bedeutung unserer Gegenwart. Sich in dem Lager zu bewegen, auch direkt in die Augen der Familien in ihren Zelten zu sehen, war hart. Der Unterschied zwischen unserer Situation und der ihrigen, eines Kommens und Bleibens, wurde uns sehr bewusst. Die freiwilligen Helfer erzählten, dass es jeden Tag Grenzübertritte aus der Türkei nach Lesbos gibt. Wenn jeden Tag Menschen ihr Leben riskieren, um das Meer zu überqueren – wie war es dann für uns, hierher zu kommen? Für uns war es nur eine eineinhalbstündige Reise übers Meer zur Insel. Da wir beide eine deutsche Aufenthaltsgenehmigung besitzen, benötigen wir auch keine Visa. Angesichts so großer Unterschiede und Ungleichheiten zwischen unserem Status und ihrem dachten wir, was immer wir auch machen – wir müssen dies als Realität ins Kalkül ziehen. Nach unserem Empfinden hatten wir kein Recht, in das Leben dieser Menschen einzudringen, nur weil sie unter harten Bedingungen leben. Das war der Zeitpunkt, an dem wir entschieden, dass unser/e Projekt/e keine Dokumentation enthalten oder einbeziehen würde/n. Wir lehnen es ab, Beobachter in dieser Situation zu sein. Ein Projekt ohne dokumentarisches Material zu schaffen, hatte auch noch andere Gründe: Wir hatten jede Menge individueller Geschichten in Zeitungen oder Blogs gelesen und Dokumentarfilme gesehen. Diese respektieren wir – aber warum hatten wir diese Reise angetreten? Unsere Idee war, ein ‚Kunstprojekt‘ zu schaffen. Daher fanden wir es schwierig, ein Kunstprojekt zu entwickeln, das die Tragödie der Menschen ausnutzt, oder das direkt die Gegenwartssituation beschreibt (wie Journalismus) oder das die Realität nachstellt, wenn die Realität schon in ihrer ganzen Tragweite präsent ist.

Nach Lesbos ging es weiter nach Izmir. Dort besuchten wir das Viertel Basmane, wo Migranten mit Schleppern die Deals für die Passage über die Ägäis verhandeln. Wir verbrachten auch einen Tag auf dem Friedhof von Dogancay; hier hat die Stadtverwaltung den Abschnitt 412 ausschließlich für Gräber von Flüchtlingen ausgewiesen, inmitten der Gräber für unbekannte Tote…

Einige Monate später reisten wir für ein paar Wochen nach Çeşme und Chios weiter. Es war Winter und das Wetter war meistens ziemlich schlecht. Es gab einen Sturm, aber selbst dann gab es weiterhin Überquerungen von der Türkei nach Griechenland. Auf der Reise von Çeşme nach Chios haben wir uns daran erinnert, dass uns während unseres Besuchs im Karatepe Camp erzählt wurde, wie Menschen meist gezwungen werden, bei solchen Wettern das Meer zu überqueren, damit sie nicht von Küstenwachen aufgegriffen werden.

Während der letzten beiden Jahre haben wir immer wieder nach Wegen für Projekte gesucht, die unsere Realität und die Lebensrealität der Migranten berühren. Wie leicht war es für uns, die Reise durch die Flüchtlingsrouten zu unternehmen? Was erwartet die Menschen, die es nach Europa schaffen? Was für eine Zukunft? Was waren unsere Empfindungen, als wir nach Deutschland kamen? Wie wurden wir von der Gesellschaft eingeordnet und wie haben wir diese neue Gesellschaft aufgenommen? Was waren unsere Erwartungen im allerersten Moment des Ankommens?

That which remains…, 2017
Meerwasser auf Arches Aquarellpapier, jeweils 56,5 × 76 cm
Worte, die zur Benennung menschlicher Grundrechte verwandt werden, wie etwa Existenz, Privatsphäre, Leben, Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, Schutz, Bewegung, wurden mit Wasser aus der Ägäis geschrieben. Das verwendete Meerwasser stammt aus Dikili und Çeşme (Türkei), Lesbos und Chios (Griechenland).

Where am I? As if in a dream… Did we arrive?, 2016
Betonskulptur, 283 × 950 cm
Das Projekt befasst sich mit den üblichen Gefühlen, die man erlebt, und den Fragen, die im allerersten Moment der Ankunft gestellt werden. Es besteht aus drei Teilen; die Fluchtroute einer syrischen Frau nach Europa, Schriftzügen aus einem Interview der BBC mit dieser Frau, und einer Sitzgelegenheit.

Die Arbeit verbindet die Route und einen Schriftzug mit einer großen Sitzfläche. Sitzen, als Aktivität, wird mit Niederlassen assoziiert und sich Niederlassen bedeutet: ein Ort werden. Prinzipiell gilt, wenn du zu einem Ort wirst, wird der Ort auch zu dir. Es besteht ein wechselseitiger Zusammenhang.

Das Werk soll viele Menschen erreichen, indem es die Route mit einer halb-ellipsoid geformten Fläche kombiniert.

Text: Özlem Günyol und Mustafa Kunt
Übersetzung: Eva Claudia Scholtz

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