© Bianca Baldi
Bianca Baldi: Performance Play White, 2019 ©
© Bianca Baldi, co-produced by Grazer Kunstverein, Netwerk Aalst, Flanders State of the art, Hessische Kulturstiftung
Bianca Baldi: Play White, 2019, Installationsansicht, Video, 10:45" (looped), colour, stereo ©
© Bianca Baldi, Foto: Tom McAllemin
Bianca Baldi: Skin Talk, 2019 ©
© Bianca Baldi
Bianca Baldi: Holding Water , 2019, Installationsansicht ©

stipendiatin bianca baldi

„Passing“ bezeichnet in der Soziologie das Phänomen, dass sich ein Individuum einer anderen ethnischen, religiösen, sozialen, physischen oder sexuellen Identität zuordnet als der eigenen, um sich nicht gesellschaftlichen Diskriminierungen oder Erwartungen auszusetzen. So wird das Individuum zu etwas anderem, als es seinem Ursprung, seiner Herkunft oder Verfasstheit nach ist. Dieses Phänomen gibt es auch im Tierreich. Darauf hat die in Brüssel lebende Künstlerin Bianca Baldi ihr Augenmerk gerichtet. Sie hat Lebewesen untersucht, die in der Lage sind, sich vor ihren Fressfeinden zu tarnen, indem sie ihr Hautpigment verändern. „Versipellis“ beschreibt diese äußerliche Wandlungsfähigkeit von Lebewesen und verweist zudem auf den mythischen Vorstellungskreis der Tier- und Menschmetamorphosen. Vergleichbar mit dieser phänotypischen Anpassung an andere Merkmale, jedoch im Kontext von Apartheid-Gesetzen zu verstehen ist die kulturelle Praxis des „Passing“.

Bianca Baldi hat sich mit dem Phänomen aus der Tierwelt und der Geschichte beschäftigt und beide zueinander in Bezug gesetzt. Aus ihren Beobachtungen ist die ebenso eindrückliche wie humorvolle Videoarbeit Play-White entstanden. Das zentrale Motiv ist der zu Farbwechseln und -tarnung fähige Tintenfisch, ein oszillierendes Geschöpf.

Die Künstlerin überträgt die Phänomene der Uneindeutigkeit zusammen mit persönlichen Erfahrungen und tragischen literarischen Gestalten in das künstlerische Medium, das extreme Grenzüberschreitungen, Tarnung, versteckte Traurigkeit und Überlebenskampf thematisiert und es ermöglicht, über soziale Wahrnehmungsmuster, Verkörperung, Selbstdarstellung und über Identitätsgrenzen nachzudenken.

Das Interview mit Bianca Baldi führte Kate Strain, die künstlerische Leiterin des Grazer Kunstvereins, wo im Frühjahr 2021 eine Wiederholung von Baldis gleichnamigem, umfangreicherem Projekt Play-White in einer Einzelausstellung gezeigt wird.

Kate Strain Der Titel Ihres Projekts lautet Play-White. Woher stammt der Begriff? Was bedeutet er, in welchem Zusammenhang wird er verwendet und welche Assoziationen oder emotionalen Reaktionen löst er gewöhnlich aus?

Bianca Baldi „Play-White“ als Substantiv ist ein südafrikanischer Ausdruck aus der Zeit der Apartheid, der sich auf eine schwarze Person oder eine Person mit einem schwarzen und einem weißen Elternteil bezieht, der es gelungen ist, sich als weiß auszugeben. Über sie sagte man: „So-und-so ist ein Play-White.“ Ich habe den Ausdruck, der aus unserem heutigen Sprachschatz verschwunden ist, als Titel meiner Videoarbeit gewählt, um ihn wieder ins Bewusstsein zu rücken. Mit ihm wurden mehr als 730 000 Menschen mit gemischter ethnischer Herkunft (laut Zählung in den 1950er Jahren) offiziell als Weiße eingestuft. An ihm haftet noch immer eine gewisse Scham, und mit seinem Wiederaufleben in Play-White (2019) beabsichtige ich, die im Zusammenhang mit Identität nach wie vor bestehenden Grenzen infrage zu stellen.

Strain Was hat Sie zu dem Projekt Play-White inspiriert?

Baldi Im Jahr 2018 hatte ich eine Ausstellung mit dem Titel Versipellis. Mit dem Wort ist die Fähigkeit gemeint, die eigene Haut an die herrschenden Umstände anzupassen, wie sie Louis Hyde in seinem Buch Trickster Makes this World beschreibt. Zu dem Zeitpunkt hatte diese Fähigkeit für mich noch eine eher metaphorische Bedeutung, bis ich dann erfuhr, dass die Kopffüßer bei den Griechen als ultimative Verkörperung eines Tricksters galten. Ihre raffinierten Chromatophoren (Pigmentzellen), die zum Zweck der Tarnung, Verstellung und bei der Jagd eingesetzt werden, ließen mich konzeptuelle Parallelen zu dem erkennen, was für das menschliche Verhalten als „Passing“ bezeichnet wird.

Tu es dem schlauen Oktopus gleich, der dem Felsen, an den er sich klammert, zu ähneln scheint. Schlage bald diese Richtung ein, nimm bald eine andere Hautfarbe an.
(Elegien des Theognis, 213 – 218, insbes. 215 – 217)

Nach einem ersten Arbeitsaufenthalt in Marseille und wegen der Nähe zum Mittelmeer bot sich mir die Gelegenheit, mit echten Sepiae officinalis, gemeinen Tintenfischen, zu arbeiten und diese Geschöpfe für eine metaphorisch verweisende Bildsprache in meine Arbeit Play-White einzubeziehen.

Strain Haben Ihre eigene familiäre Geschichte und persönliche Erfahrung in Ihnen den Wunsch entstehen lassen, sich mit dem Thema der ethnischen Herkunft im südafrikanischen und dann auch im weiteren Kontext zu befassen?

Baldi Die Tatsache, dass ich Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre in Südafrika aufgewachsen bin, hat mich zwar für Fragen der Abstammung und ethnischen Kultur extrem sensibilisiert, doch gab es zahlreiche persönliche Narrative, die in der Familie tabu waren.

Die Umklassifizierung von coloured zu white war ein bürokratischer Akt, basierend auf drei Kriterien: Aussehen, Abstammung und Akzeptanz. Wenn du beantragt hattest, umklassifiziert zu werden, dann wurde deine ethnische Zugehörigkeit in der Maschinerie der Apartheid-Gesetzgebung verwaltet.

Um es mit Bezug auf Susan Sontags „Camp“-Begriff zu sagen: Indem man über das „Passing“ spricht, hinterfragt oder vielmehr entlarvt man es auf ironische Weise. Aus dieser Perspektive he­raus habe ich Jahre später die Literatur und Romandichtung nach ähnlichen Narrativen durchsucht, die es mir möglich machten, meine fragwürdigen, von der Familie übernommenen Sichtweisen, aber auch das eigene Ausblenden des „Passing“ zu thematisieren.

Literatur, fiktionale Erzählung und Charaktere schienen mir also die am besten geeigneten Formen zu sein, um die komplexe wie komplizierte Thematik zu fassen.

Strain Bei Ihren Recherchen begegneten Ihnen etliche Charaktere wie Clare in Nella Larsens Roman Passing (1929), die dem aus der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts bekannten Idiom des „tragischen Mulatten“ entsprechen. Die fiktive Figur der Clare taucht an einer bestimmten Stelle in Ihrer Videoarbeit wieder auf, als eine der Figuren, mit denen sich der Tintenfisch – der Hauptprotagonist – unterhält.

Was hat Sie dazu bewogen, sich im Rahmen dieses Projekts mit dem Tierreich zu befassen? Versuchen Sie, Parallelen zu ziehen oder unseren Blick auf Haut auf der biologischen Ebene neu zu fokussieren, oder war es etwas anderes?

Baldi Ich denke, es geht hier um zweierlei. Zum einen ist es nicht das erste Mal, dass ich mich in meiner Arbeit mit der Tierwelt befasse. Das Interesse dafür, wie diese Welt beschaffen ist, zieht sich durch meine Arbeit, und es trifft sich mit dem für die Wissensvermittlung und Taxonomie des 19. Jahrhunderts, die ich wegen ihres Klassifizierungseifers kritisiere. Es ist ja kein Zufall, dass kurz nach Aufkommen des Speziesismus auch der Rassismus zutage trat. Menschen war es nur recht, Unterschiede zwischen sich und anderen aufzuzeigen, sie gingen dabei sogar so weit, sogenannte rassische Unterscheidungsmerkmale wissenschaftlich begründen zu wollen. Ohne die Formulierung solcher Kategorien hätte sich das Problem des „Passing“ nie gestellt. Da „Passing“ notge­drun­g­en­­ praktiziert wird, um durch adaptierte Identität einer von Klassifizierung geprägten Diskriminierung zu entkommen, gibt es auch das tabuisierte Leiden an diesem Phänomen. Wie die literarisch-fiktionale Erzählung dienen mir eben die Erscheinungen der Tierwelt dazu, solche Wahrheiten zu formulieren.

Strain Play-White setzt sich als Gesamtprojekt aus drei wesentlichen Komponenten zusammen: aus dem Film, dem textilen Werk und dem Buch. Können Sie uns etwas über die einzelnen Projektteile erzählen?

Baldi Das Video besteht aus drei Kapiteln, die von einer eindringlichen Musik begleitet werden. Aus dem Off sprechen zwei weibliche Stimmen adaptierte Passagen aus Nella Larsens Passing. Ihre Stimmen und der immersive Soundtrack führen dem Betrachter die inneren Bilder der Protagonistinnen – die im Film von Tintenfischen verkörpert werden – vor Augen.

Die Textilarbeit mit dem Titel Skin Talk hingegen befasst sich mit dem Farbausstoß beim Tintenfisch und mit dessen spezifischen, pixelähnlichen Farbwechselzellen, die den Hautton je nach Umgebung modulieren und verändern.

In beide Arbeiten habe ich zahlreiche Forschungsergebnisse und Beobachtungen einfließen lassen. Im Moment arbeite ich an einer Veröffentlichung, die diese Ideen und Mitteilungen an anderer Stelle und für den südafrikanischen Kontext zusammenführt, in dem die Auseinandersetzung mit „Passing“ unterrepräsentiert ist.

Strain Wie haben Sie Ihre Aufnahmen für den Film gedreht und wo recherchierten Sie für den Film?

Baldi Die Aufnahmen sind im Institut Méditerranéen d’Océanologie in Marseille entstanden.

Dank des Stipendiums der Hessischen Kulturstiftung konnte ich mehrmals nach Marseille reisen und die Wissenschaftler in ihren Labors filmen. Vor allem aber konnte ich den Kontakt zu Gérard Carrodano herstellen, dem Fischer in La Ciotat (ein mythischer Ort in der Geschichte des Kinos), der die beiden Tintenfische aus dem Video fing und mir zeigte, wie man mit ihnen umgeht.

Für den Film wurden verschiedene Aufnahmetechniken genutzt. Ich habe neben dem herkömmlichen HD-Video eine Scope-Kamera eingesetzt, mit der eine neue Art des Filmens möglich ist. Man taucht ohne Sucher in das Ganze ein und kommt dem Motiv sehr nah. Dies ist, anders als in der konventionellen Fotografie, eher eine Verlängerung der Hand als des Auges.

Strain Können Sie etwas über die Entstehung der Spuren auf dem Stoff erzählen, wie Sie dieses spezielle Muster erforscht haben, was es Ihnen in wissenschaftlicher und persönlicher, aber auch metaphorischer Hinsicht bedeutet und welche Materialien Sie verwendet haben, um daraus eine textile Arbeit zu gestalten?

Baldi Das zarte, poröse Seidengewebe saugt die Tinte sehr stark auf, weshalb man bei diesem von Hand ausgeführten Vorgang äußerst behutsam sein muss, da die Farbe sich mit steigendem Druck umso schneller ausbreitet. Die Tinte durchtränkt das Gewebe, während sich im horizontalen Verlauf changierende Farbabstufungen abbilden.

Die taktile, im Raum hängende Arbeit aus Stoff führt einen Dialog mit dem Video, und in meiner für den Grazer Kunstverein im Frühjahr 2021 geplanten Installation sehe ich eine Erweiterung dieser Arbeit, die dort dann einen Dialog nicht nur mit dem Video, sondern darüber hinaus auch mit dem Umfeld herstellen wird. Stoffe werden gewöhnlich dazu verwendet, unsere Körper zu bedecken, wie mit einer zweiten Haut. Ich arbeite gern mit diesem Material, besonders wenn ich mit Stoff ein temporäres Gefühl für einen Innenraum oder auch privaten Raum hervorrufen kann, indem ich ihn damit „anfülle“. Für mich besteht hier eine Parallele zu den privaten Dialogen im Video und auch zu der Art und Weise, wie das Thema „Passing“ über ganz beiläufige Erzählungen, Hörensagen und das Füllen von Leerstellen übermittelt wird.

Strain Das Buch, das Sie veröffentlichen, bietet Ihnen die Möglichkeit, etwas von den mit diesem Projekt verbundenen, eher akademischen, wissenschaftlichen oder juristischen Recherchen publik zu machen. Können Sie uns sagen, inwiefern Ihnen diese Recherchen wichtig waren und in welcher Form Sie ihnen in der Publikation Ausdruck verleihen möchten?

Baldi Bei meinen Recherchen zu diesem Projekt habe ich festgestellt, dass „Passing“ in der bildenden Kunst bislang noch kaum thematisiert worden ist. Während es in der Literatur und im Film, vor allem im nordamerikanischen Kontext, häufig Gegenstand von Diskussionen war. Es war mein Wunsch, einige Funde, die aus meinen Recherchen zum „Passing“ hervorgegangen sind, zu dokumentieren und für sie über die zeitlich begrenzte Ausstellung hinaus eine Präsentationsform zu schaffen.

Das veranlasste mich dazu, eine Publikation zu planen, in der ich fiktive Elemente mit Fakten aus wissenschaftlichen Abhandlungen zum Thema Tarnung sowie mit historischen und juristischen Texten zusammenbringen kann, um das Problem der politisch-ästhetischen Identitätsschwelle umfassend zu behandeln.

Ein Buch wird gewöhnlich als Fortsetzung des Ausstellungsprozesses gesehen, doch dieses Mal bietet es weiteren Gedanken (und Befunden) zu einzelnen Themenaspekten Platz.

Strain Glauben Sie, dass es Ihrem Projekt gelingt, der häufig übersehenen Position des „tragischen Mulatten“ aus der Literatur eine Stimme zu verleihen? War das eins Ihrer ursprünglichen Ziele oder schwebte Ihnen noch etwas anderes vor?

Baldi Es ist schwierig, den „Erfolg“ der Arbeit an sich zu ermessen­­. Sie hat allerdings mit Sicherheit mein Verständnis und meine­­­­ Sicht auf diese literarische Figur erweitert und mich mit einer Sprache ausgestattet, die „Passing“ charakterisiert und eben dazu befähigt, das Phänomen auf künstlerische Weise zu besprechen. Meine ursprüngliche Absicht war es, noch weitere Narrative zu finden, die dem meinen ähnlich sind. Über diese Arbeit und die Lektüre von auf gelebten Erfahrungen basierenden Berichten und Romanen konnte ich in ein Universum vordringen, das mir zuvor verborgen war. Auch wenn akademische Texte oder Diskurse zu diesem Thema rar sind, haben Romane und Filme ein ganzes Genre geschaffen, in dem die ästhetische Fassade stets im Zentrum steht.

Aus dem Englischen von Saskia Bontjes van Beek

Die Ausstellung Play-White von Bianca Baldi findet von März bis Juni 2021 im Grazer Kunstverein statt. Die im kommenden Frühjahr erscheinende gleichnamige Publikation entsteht in Zusammenarbeit mit Netwerk Aalst.

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