Stipendiatin Tatjana Stürmer
Die Arbeiten von Tatjana Stürmer bewegen sich zwischen grafisch-gestalterischer Praxis und multimedialen Installationen. Sie untersuchen, wie gesprochene, geschriebene und bildhafte Sprache sich auf unsere sozialen und politischen Erfahrungen auswirkt. Im Fokus von Stürmers Interesse stehen derzeit Quellen weiblichen Schreibens aus dem frühen Mittelalter, die sie in Relation zur Gegenwart setzt, um gesellschaftliche Verhältnisse von Macht und Ohnmacht zu dekonstruieren. Stürmer absolvierte ihr Diplom an der HfG Karlsruhe in Kommunikationsdesign, Medienkunst und Kunstwissenschaft. Ihre Arbeiten waren unter anderem Teil von Ausstellungen im Badischen Kunstverein Karlsruhe, in der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig, der MEWO Kunsthalle Memmingen, der Ornamenta24 und der Kunststiftung Baden-Württemberg. Mit dem Stipendium der Hessischen Kulturstiftung reiste sie 2023 für einen Forschungsaufenthalt nach New York; ihre Recherchen wird sie bei einem erneuten Aufenthalt in New York im Sommer 2025 abschließen.
Seda Pesen ist Kunstwissenschaftlerin und Autorin. Nach ihrem Studium der Kunstgeschichte und Komparatistik in Bonn absolvierte sie ihren Master in Critical and Curatorial Studies in Frankfurt am Main. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Labor für empirische Bildwissenschaft (Universität Wien). In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit subjektiven Konfigurationen des Blicks, ästhetischen Urteilen und deren habituellen Verstrickungen. Zuvor war sie am Kunsthistorischen Institut der Universität Bonn, an der Hochschule Mainz sowie an Ausstellungshäusern wie dem Kölnischen Kunstverein oder der Bundeskunsthalle Bonn tätig.
Seda Pesen Lass uns zunächst über deine Arbeit The Virgin, the Cleaver and the Martyr (Die Jungfrau, das Hackbeil und die Märtyrerin) von 2023 sprechen. In der Installation setzt du dich visuell und auditiv mit einem mittelalterlichen Drama von Hrotsvit von Gandersheim auseinander, in welchem drei Frauen als Märtyrerinnen für ihre Selbstbestimmung sterben. Dieses Vorgehen empfinde ich als charakteristisch für deine künstlerische Praxis – weibliche Erfahrungsräume der Vergangenheit und der Gegenwart in Relation zueinander zu setzen. Kannst du darlegen, wie du deine Texte findest und deine Auswahl begründest?
Tatjana Stürmer Für diese Arbeit habe ich zunächst nicht spezifisch nach einem Text gesucht. Auf einem Mittelalterblog bin ich auf eine Synopsis gestoßen, die nur drei Zeilen lang und so seltsam war, dass sie mein Interesse weckte. Sie beschrieb einen Dramentext von Hrotsvit von Gandersheim, einer Kanonisse, die ungefähr im Jahr 935 geboren wurde. Hrotsvit von Gandersheim war damals wie heute bekannt für ihre Texte und diente am Anfang des 20. Jahrhunderts als Vorbild für die Frauenbewegung. Ihre sechs Dramen habe ich mir in deutscher Übersetzung beschafft. Beim Lesen fand ich den Inhalt spannend, aber auch befremdlich. Schließlich merkte ich, dass diese Strangeness aus der Übersetzung herrührte: Hrotsvit schrieb ursprünglich auf Latein. Entsprechend habe ich viele Übersetzungen vergleichend gelesen und fand bemerkenswert, dass ihre Dramen im New York der 1970er-Jahre in Lesekreisen diskutiert wurden. The Virgin, the Cleaver and the Martyr nimmt The Martyrdom of the Holy Virgins Agape, Chionia, and Hirena (Dulcitius) in der englischen Übersetzung von Katharina Wilson (1998) als Vorlage. Es wird das Schicksal drei junger Frauen beschrieben: Sie werden in eine Küche eingesperrt, weil sie sich nicht verheiraten lassen wollen. Die Figur des die Frauen begehrenden Statthalters Dulcitius betritt auf der Suche nach ihnen in der Nacht die Küche, verwechselt sie mit Töpfen und liebkost diese. Trotz der Komik ist die Szene brutal. Diese Ambiguität fasziniert mich, da sie sich nicht einfach übersetzen oder eindeutig positionieren lässt. Wenn ein Text durch die Zeit wandert, verschieben sich Bedeutungen. Offenzulassen, wie das Groteske wirkt, finde ich interessant. Die Arbeit mit dieser englischsprachigen Übersetzung brachte mich später zu meinem Projektvorhaben für das Reisestipendium der Hessischen Kulturstiftung – nämlich der Frage nachzugehen, worauf die Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Texten in den Vereinigten Staaten beruht.
Pesen Man könnte also sagen, dass die gesamte Rezeptionsgeschichte des Dramentextes in dein Werk mit eingeschrieben ist.
Stürmer Ja. Der Titel der Arbeit reflektiert die vielschichtige und mehrdeutige Rezeptionsgeschichte des literarisch-fiktionalen Werkkomplexes, aber auch der Biografie von Hrotsvit von Gandersheim. Ihre Stücke waren zu ihren Lebzeiten sehr bekannt. Einige Zeit nach ihrem Tod geriet Hrotsvit von Gandersheim für Jahrhunderte in Vergessenheit. Erst die Humanisten entdeckten sie aufgrund der Abfassung ihrer Texte in der von ihnen bevorzugten lateinischen Sprache wieder. Hrotsvit wurde fälschlicherweise verschiedenen Herkunftsfamilien und -orten zugeordnet – bis man schließlich sogar ihre Existenz infrage stellte und ihre Werke männlichen Autoren zuschrieb. So wurde ihre Identität zersplittert und auch ihr literarisches Korpus auseinandergerissen. Der Titel The Virgin, the Cleaver and the Martyr bezieht sich auf diese Prozesse: Die Jungfrau steht für ihr klösterliches Leben und ihre Hartnäckigkeit, das Hackbeil für das Zerstückeln ihres literarischen Werks über Jahrhunderte hinweg, und die Märtyrerin für die Gestalt, in die sie sich verwandelte, als man ihr Sein bestritt. Diese drei Figuren verschmelzen zu einer einzigen, transhistorischen Gestalt. Hrotsvit ist nicht eine, sondern viele Frauen, deren Zeit überwindender Kollektiv-Körper das Wir durch die Geschichte trägt, die mystisch-geheimnisvoll und mächtig in ihrer emanzipatorischen Kraft sind.
Pesen Deine Auseinandersetzung ist durch die Verwendung von sicht- wie hörbaren Elementen mehrschichtig. Du baust so etwas wie sensorische Gedankenwelten um den Text herum. Warum diese verschiedenen Ebenen? Welche Rolle spielt dabei die Körperlichkeit der Betrachter:innen?
Stürmer Durch die Simultanität unterschiedlicher medialer Elemente gibt es kein dominierendes Narrativ; wenn jede:r etwas anderes gesehen oder gehört hat, entstehen Gleichzeitigkeiten, Lücken und Fragmente. Für The Virgin, the Cleaver and the Martyr habe ich mit dem Komponisten Lukas Rehm zusammengearbeitet, der mit mir den Text auditiv ausgearbeitet und dann mit drei Stimmen, zwei Opernsängerinnen und einer Sprecherin, aufgenommen hat. Über mehrere Kanäle werden diese Stimmen durch von der Decke hängende Lautsprecher wiedergegeben; sie kommunizieren miteinander wie in einer Kammeroper. Die Klänge umgeben die Betrachter:innen und erzeugen ein Hörerlebnis, das sich mechanisch nicht vollständig erfassen lässt. Die, die zuhören, können ganz nah herangehen und ihre Wangen den Lautsprechern nähern, um jedes Flüstern zu hören, sie schmiegen sich an die Technik – hier spielt auch das Rätselhafte der mittelalterlichen Autorinnen, in diesem Fall von Hrotsvit von Gandersheim, mit. Semi-opake, zeichenhaft bedruckte Stoffe verhüllen die Lautsprecher, die dadurch in fließender Körperlichkeit auf Augenhöhe mit den (Zu-)Hörenden schweben. In Abhängigkeit vom einfallenden Tageslicht, das durch blaue Folien an den Fenstern gebrochen wird, stehen sie im Zwielicht zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang und lange, wandernde Schatten gleiten über sie und die Wände des Ausstellungsraums.
Pesen Das Ornament spielt eine wichtige Rolle in deinen Werken. Dabei hat es vor allem kunsttheoretisch eher einen steinigen Weg hinter sich, denken wir an Ornament und Verbrechen von Adolf Loos, der das Ornament in Kunst und Architektur als kulturell rückständig kritisiert. Welchen symbolischen Gehalt trägt es für dich?
Stürmer Ich unterscheide zwischen einer ornamentalen Arbeitsweise und einem Ornament als grafischem Gestaltungselement. Ornamentales Arbeiten erfordert ein exzesshaftes, gestalterisches Potenzial, einen Überschuss an Zeit und Aufmerksamkeit. Ein Ornament ist dabei für mich kein symbolischer Platzhalter, es interessiert mich als etwas, das wie ein Zeichen funktioniert, eine gewisse Uneindeutigkeit haben kann und mehr beschreibt als es eigentlich ist. Das Ornament steht für mich im Gegensatz zu einer Textzeile. Ein Ornament setzt sich dazwischen, es nistet sich ein und bricht auf: Seine Lesart(en) lassen chronologische Verschiebungen und Verzwickungen zu. Dadurch gibt es auf einmal nicht mehr nur die eine Lesart, sondern viele Auslegungsmöglichkeiten.
Pesen Kommen wir zu deinem aktuellen Projekt. Für das Reisestipendium der Hessischen Kulturstiftung hast du New York gewählt. Das finde ich spannend, weil die Stadt für mich ein Schmelztiegel der westlichen Geschichte ist, denken wir etwa an die Kolonialisierung oder an wesentliche Entwicklungen des Neoliberalismus. Warum New York?
Stürmer Ich war während der Recherche für The Virgin, the Cleaver and the Martyr überrascht, wie viele mittelalterliche Quellen und Sekundärtexte sich in Archiven und Sammlungen an der Ostküste befinden, darunter auch Texte von Mystiker:innen, die mich besonders interessieren. Ich hatte sie in Europa vermutet. Mir stellten sich viele Fragen: Gibt es Zusammenhänge zwischen einem mystischen Erleben und dem Schreiben mit der Hand? Lässt sich das Verschwinden mystischer Schriftsteller:innen in Europa mit der Erfindung des Buchdrucks und der frühen Aufklärung zusammenbringen? Ich wollte untersuchen, inwieweit die Reproduktion mystischer Texte und ihre transatlantische Überführung sich im „neu entdeckten“ Nordamerika identitätsstiftend auswirkten. Aber nicht nur Fragen rund um die Anfertigung, Vervielfältigung und Inhalte, auch der Wert, der den mittelalterlichen Texten im Kunsthandel beigemessen wurde, interessierten mich. Sotheby’s, gegründet in London und heute ein global führendes Auktionshaus mit Sitz unter anderem in New York, baute seinen Erfolg ab 1744 auf dem Verkauf einer Bibliothek mit wertvollen Manuskripten auf. Diese Entwicklung bewegt sich in einem Zusammenspiel aus Überseeroute, Kunstmarkt und historischem Kontext – ein Zusammenspiel, das ich weiter untersuchen möchte.
Pesen Einer deiner Hauptarbeitsorte war die Beinecke Library, eine Bibliothek für seltene Manuskripte. Kannst du mich mehr in deinen Rechercheprozess einführen?
Stürmer Die Arbeit in einer Handschriften-Sammlung braucht viel Vorbereitung, das bloße „über etwas Stolpern“ ist dort schwer möglich. Auf The Manuscript Road Trip, einem Mittelalterblog von Lisa Fagin Davis, gibt es eine Google-Karte, auf der man sehen kann, wo bestimmte Manuskripte und Bücher aufbewahrt werden – etwa bei J. P. Morgan, in der Beinecke Library oder der New York Public Library. Ich musste zunächst prüfen, was öffentlich zugänglich ist. Viele Bibliotheken und Archive digitalisieren ihre Bestände, wobei es einen großen Unterschied macht, etwas digital oder physisch zu rezipieren. Das Anschauen der Manuskripte ist ein eigener Prozess, beinahe performativ: Man zeigt seinen Pass, bekommt das Manuskript gebracht und muss sich vorher zwei Minuten lang die Hände waschen, weil man das Pergament nur mit bloßen Fingern berühren darf. In der Beinecke Library arbeitet man in einem verglasten Raum mit 20 Tischen, über jedem eine Kamera. Bewacht von mehreren Sicherheitsbeauftragten, kann man das Manuskript anschauen. Das ist ein seltsames Verhältnis: Dieses auratische Objekt, das so viel Sensibilität einfordert, trifft auf die transparente, überwachte Umgebung. Im Sommer werde ich meine Recherchen in New York abschließen und beginnen, sie in eine neue künstlerische Arbeit zu überführen. Darauf freue ich mich schon sehr.