Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
was ist das? Es leuchtet aus sich heraus und beleuchtet anderes mithilfe von Sprache und Bildern – Verschiedenartiges zu verbinden, ist der zentrale Faden in seinem Gefüge – es ist aus Stücken und Seiten aufgebaut. Es liegt auf der Hand, aufgefaltet: der maecenas zum Sommer, im Verbund seiner Themen mit dem Dreiklang Faden–Licht–Buch. Nicht in mildem Licht, vielmehr in verunsichernder Deutlichkeit erscheint die schwarze Linie des Fadens im Werk von Annegret Soltau, wo sie Zustände der Einengung oder Zerrissenheit in eine drastisch wirkende Bildsprache übersetzt. Das Werk der Künstlerin stellt das Städel Museum erstmalig in all seiner Offenheit vor, unzensiert. In großem Leuchten schweben die Vitrinenstücke des Deutschen Elfenbeinmuseums einen illuminierten Steg entlang; er zieht sich durch die verdunkelten Räume wie der rote Faden – an ihn reihen sich für die Sammlung angekaufte Stücke aus dem „weißen Gold“. Fadengeheftet und in Neonorange präsentiert sich das neue Buch des Labels PRÄPOSITION, das seine eigene Negation definiert, als Textutopie: Es sei weder „das Papier zwischen zwei Buchdeckeln“ noch „der Faden, der seine Seiten aneinanderheftet“, sondern „weißer Raum mit lichtem Maß“, in dem alle Sprache aufgehoben ist. Vom Licht im Raum des Buches, das mehr ist, als man sieht, nämlich ein ganzheitliches Ereignis aus Malerei, Kalligrafie, gesprochenem und gesungenem Text, das beim Gebet mit dem höheren Unsichtbaren korreliert, handelt die Ausstellung Text & Spirit im Museum Angewandte Kunst.
Angst und Verzweiflung rauben Sprache. Für den ukrainischen Schriftsteller und Friedenspreisträger Serhij Zhadan ist Sprache „die Fähigkeit, das Licht zu sehen selbst inmitten völliger Dunkelheit“. Sie sei „wie Gras, das sogar in einer Brandstätte wieder wächst“. In dem Gedicht von Paul Celan greift ebenso ein Hoffnungsgrün, ein widerständiger Gedanke, über die Sprachlosigkeit einer traumatisierten Welt hinaus in kosmische Höhen, von wo ein fädiges Licht auf verbrannte Erde fällt – wie der Vorschimmer zu einer wieder sprech- und sangbaren Sprache.
Bleiben Sie guter Dinge!
Eva Claudia Scholtz
Geschäftsführerin der Hessischen Kulturstiftung
FADENSONNEN
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.
Paul Celan