© VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Rolf Gönner
Annegret Soltau: Mit mir Selbst, 1975/2022 · Courtesy Galerie Anita Beckers ©



Fadenzüge

Von der grafischen Linie zum greifbaren Faden – mit dieser dimensionalen Erweiterung der Linie hat Annegret Soltau früh den Schritt ihres künstlerischen Werdegangs gesetzt, mit dem sie sich von ästhetischen Konventionen entfernte. Den Schritt in die feministische Performancekunst und Fotografie der 1970er-Jahre, der zu einer starken Bildsprache geführt hat – doch auch zu Gegenreaktionen bis in die jüngste Zeit. Ihre Behandlungen des meist nackten Körpers, vor allem ihres eigenen, wurden als allzu deutlich empfunden. Die verdeckende, auch ausgrenzende Hand der Zensur griff immer wieder auf die Bildwerke der Künstlerin über. Mit einem Mittel von radikaler kommunikativer Stärke – Nadel und Garn – legt sie Körperwahrheiten offen, biografische wie auch allgemeinmenschliche. An der Preisgabe des Körpers werden Verwundung, vermeintlich Hässlich-Obszönes und somit die Durchkreuzung von Seh- und moralischen Erwartungen hautnah erfahrbar. Soltaus schwarzer Faden hat sich aus der eingeritzten Radierlinie entwickelt. Ihre „Handarbeit“ führt die Verletzung der Druckplatte der Haut mit dem Faden zu, um den Körper die Zeichnung spüren zu lassen. Soltau „bezeichnet“ verletzbare Schichten, die Zustände aufnehmen, die (nach)empfunden werden. Enge Fadenwindungen deformieren menschliche Gesichter. Aufgesplitterte fädige Linien löschen weibliche Physis aus. Gerissene Stücke fotografierter Körper sind mit Verwerfungen im groben Fadenschlag zusammengenäht. Mit der schwarzen Fadenlinie, die sich über und durch das Gewebe des Lebens mit seinen Rissen zieht, schreibt Soltau nicht ausnahmslos Gewaltvolles ihren Bildern ein. Da, wo sie umwickelt oder durchsticht, um zu verbinden, ist Zusammenhalt, Reparatur oder selbst die humorvolle Seite in ihrem Werk präsent. 

Unzensiert im Städel nimmt Fadenzüge vor: Die Schau entfernt an Annegret Soltaus mehr als fünfzigjährigem Werkkorpus die Verschlussstiche der Zensur und setzt in die offenen Nähte die Stücke ein, die bisher nicht öffentlich zu sehen waren.

  • Unzensiert. Annegret Soltau – eine Retrospektive
  • Städel Museum
  • bis 17. August 2025
  • Schaumainkai 63, Frankfurt am Main
  • Telefon +49 69 605098200
  • staedelmuseum.de