© Studio Jochem Hendricks · VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Günzel / Rademacher
Jochem Hendricks: Hot Union 2, 2017–2021 ©
© VG Bild-Kunst, Bonn 2025 · © Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim, Foto: Frank Möllenberg
Ausstellungs­ansicht ,Deep Distance Tender Touch‘ mit Blick auf ,Umgekippte Möbel' von Reiner Ruthenbeck (1971, MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST, Frankfurt am Main ©
Foto: Fredster Studio
Außenansicht des H8H.space, Frankfurt am Main, 2024 ©
© Studio Jochem Hendricks / VG Bild-Kunst, Bonn 2025) · © Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main, Foto: Günzel /Rademacher
Ausstellungsansicht ,Text & Spirit‘ mit Blick auf ,Tränen‘ von Jochem Hendricks (1994–2001) ©



Stipendiat
Jochem Hendricks

Jochem Hendricks studierte an der Städelschule in Frankfurt am Main, wo er nach Stationen in New York und Berlin lebt und arbeitet. Sein neo-konzeptuelles Werk basiert auf einem starken Interesse an künstlerischen Strategien. Seine Praxis ist medienübergreifend und reicht von Plastik und Skulptur über Fotografie, Film, Text bis zu Malerei und Zeichnung. Mit einem Stipendium der Hessischen Kulturstiftung reiste er 1995/96 nach Sibirien. Hendricks stellt regelmäßig in internationalen Museen aus, darunter The San Francisco Museum of Modern Art · Museum Haus Konstruktiv, Zürich · Museum of Arts and Design, New York · Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main · ICC Tokyo · Kunstsammlung NRW, Düsseldorf · Unique Art Center, Chengdu · Kunstmuseum Bonn · Bundeskunsthalle Bonn · Kunstverein Freiburg · Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main · Kunsthalle St. Gallen · Ludwig Forum Aachen · Kentucky Museum of Art · Birmingham Museum · Opelvillen, Rüsselsheim · Kunsthalle zu Kiel · Gropiusbau Berlin · Be-Part, Waregem · Schirn Kunsthalle Frankfurt · Expo 2000, Hannover · Yun.Contemporary Arts Center, Shanghai u. v. m.

Beate Kemfert promovierte 1995 im Fach Kunstgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Anschließend war sie als freie Kuratorin, Autorin und Kritikerin tätig. Seit 2004 ist sie Kuratorin der Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim, die sie seit 2005 als Vorstand leitet. Sie ent­wickelt Ausstellungen von der Klassischen Moderne bis zur Gegenwartskunst insbesondere zur Fotografie. Auch in ihren
Publikationen liegt dabei der Schwerpunkt auf Künstlerinnen. Mit Jochem Hendricks kuratierte sie 2024 die Ausstellung Deep Distance Tender Touch in den Opelvillen.

 

Beate Kemfert Im internationalen Ausstellungswesen bilden thematische Kunstschauen, die von Künstlerinnen und Künstlern kuratiert wurden, keine Seltenheit. Gerade in den letzten Jahren waren diese enorm erfolgreich. Dennoch warst Du verwundert, als ich Dich fragte, an einer Ausstellung mitzuarbeiten. Warum?

Jochem Hendricks Stimmt, es gibt zunehmend Ausstellungen, die von Künstlern und Künstlerinnen kuratiert werden, und das ist ja im Grunde auch eine gute Idee. Ich denke immer, Künstler:innen sind näher am Material und wollen vor allem die Kunstwerke zur Geltung bringen. Man sieht so viele vor allem institutionelle Ausstellungen, in denen Kunstwerke kuratorischen Ideen dienen, die doch oft sehr aufgesetzt wirken. Verwundert war ich über Deine Anfrage deshalb, weil ich das in dieser Größenordnung noch nicht gemacht hatte. Außerdem hatten wir nie zusammen ausgestellt. Warum hast Du mich denn eingeladen?

Kemfert Ich habe lange nachgedacht, wie eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst aussehen könnte, die die ursprüngliche Nutzung der Opelvillen reflektiert. Meine Gedanken kreisten um Alltagsgegenstände in der Kunst oder um Künstlerinnen und Künstler, die in ihren Werken das Thema Wohnen reflektieren. Schnell wurde mir klar, dass ich als Kunsthistorikerin einen Sparringspartner brauche, der sowohl konzeptionelle Tiefe besitzt als auch überzeugende ästhetische Umsetzungen entwickeln kann. Da ich Dein Werk schon sehr lange schätze, kam ich auf Dich. Ehrlich gesagt, war es eher eine Gefühlsentscheidung, dass es gut werden könnte, den Künstler und Denker Jochem Hendricks ins Boot zu holen.

Deep Distance Tender Touch war Deine erste kuratorische Arbeit, durch die Du verschiedene Grenzen, die der kuratorischen Freiheit mitunter gesetzt sind, neu kennengelernt hast, von restauratorischen Auflagen über Kostenzwänge bis hin zu musealer Bürokratie. Hat das einen Einfluss auf Deine künstlerische Arbeit?  

Hendricks Nein, auf meine eigene Arbeit gibt es da keinen Einfluss. Umgekehrt ist aber der Einfluss meiner künstlerischen Arbeit auf meine kuratorische Praxis sehr groß. Und die Grenzen, von denen Du sprichst, kannte ich bereits von Ausstellungen in Museen, wobei diese Reglementierungen von Haus zu Haus und auch länderspezifisch unterschiedlich streng ausfallen. Nervig ist das immer, man will ja sein Projekt möglichst 1:1 umsetzen. Was ich bei Deep Distance Tender Touch gelernt habe, ist etwas mehr Ergebenheit. Geduld werde ich in diesem Leben nicht mehr lernen. Die Erfahrungen bei Dir in den Opelvillen waren allerdings krasser, weil ich sie mit diesem Innenblick, von Seiten des Kurators und des Hauses, noch nie so geballt erlebt hatte. 

Kemfert Wie würdest Du Dein Vorgehen und Verhältnis als Künstler zum Kuratieren beschreiben?

Hendricks Ich hatte mir vorgenommen, an unsere Ausstellung heranzugehen wie an eine eigene plastische Arbeit. Ich hatte also immer das Haus der Opelvillen als Ganzes im Blick und habe nicht einfach meine Lieblingskünstler:innen ausgewählt, sondern habe versucht, auf der Grundlage der thematischen Vorgabe, also der Frage nach dem ursprünglichen Nutzungszweck des Gebäudes und seiner einzelnen Zimmer, in sich stimmige Räume aus miteinander korrespondierenden Kunstwerken zusammenzustellen und ebenso die Abfolge der Räume als Haus zu einem Gesamtwerk zusammenzubauen. Nicht viel anders arbeite ich als Künstler auch. Idee und Konzept müssen natürlich passen, aber dann sollen die Details und Verweise, die Bezüge und Anspielungen ineinandergreifen und ein komplexes Ganzes ergeben. Lust und Witz dürfen dabei auch nicht zu kurz kommen, und jedes einzelne Werk soll glänzen.

Du selbst sprachst oft vom Künstlerkurator und andere professionelle Kurator:innen auch. Das konnte ich anfangs gar nicht nachvollziehen und habe deshalb bei befreundeten Profis nach den Unterschieden gefragt. Man sagte mir, dass Künstler „anders“ kuratieren. Dieses „anders“ wurde dann so spezifiziert, dass Künstler einen anderen Umgang mit Material haben, freier bei der Zusammenstellung der Werke sind und weniger reglementiert. Was wohl heißen soll, dass wir Künstler uns mehr erlauben können. Wer da erlaubt oder auch verbietet, wurde nicht benannt. Hast Du eine Idee?

Kemfert Kunst zu machen, ist für mich eine andere Herangehensweise als Kunst auszustellen, über Kunst zu schreiben oder Kunst zu vermitteln. Künstlerinnen und Künstler sind durchdrungen vom Produzieren ästhetischer Formen – von Malerei über Installationen bis zur Konzeptkunst. Wenn sie kuratorisch wirken, nehmen ihre Visionen andere Gestalt an, mit zum Teil ungesehenen Konstellationen, die neue Denkräume öffnen. 

Würdest Du denn wieder eine Ausstellung kuratieren?

Hendricks Wenn die Aufgabe interessant ist, klar! Seit kurzem betreibe ich ja sogar einen eigenen Projektraum in Frankfurt, das H8H.space in meinem früheren Atelierhaus hinter dem Hauptbahnhof. Den Ort anmieten zu können, war zwar eine Gelegenheit, inhaltlich ist es aber letztlich eine Fortführung des Kuratierens als Künstler. Es ist irre viel Arbeit und Verantwortung, aber auch toll, meine eigenen Ausstellungsideen und auch die anderer Kurator:innen und Künstler:innen umsetzen zu können und mit all diesen interessanten Leuten zusammenzuarbeiten.

Kemfert Möchtest Du mit Deiner Fortführung des Kuratierens als Künstler unseren Blick auf besondere bildnerische Medien oder Bewegungen lenken, oder anders gefragt, welche Künstler:innen möchtest Du in den Fokus rücken? Geht es Dir um eine bestimmte Art von Kunst? Möchtest Du mit Deinen Ausstellungen möglicherweise auch Leerstellen in der Kunstlandschaft unserer Region füllen? 

Hendricks Ich möchte Frankfurt als internationale Kunststadt zeigen und lade dazu internationale Künstler:innen und Kurator:innen aus meinem Netzwerk ins H8H ein und kombiniere dies mit Positionen aus Frankfurt beziehungsweise der Region. Es gibt so viele gute Künstler:innen aller Generationen hier und zu wenige Orte, wo sie ausstellen können. Wir haben ja eine sehr starke institutionelle Szene, aber viel zu wenige Galerien und freie Projekträume. In dieser Lücke hat das H8H seinen Platz. Programmatisch ist einzig der Grundsatz, dass es immer zuerst um Qualität geht. Ansonsten ist das H8H sehr offen angelegt und zeigt und kombiniert Zeiten, Stile und Medien, die verschiedenen Künste, Wissenschaften etc. Der Schwerpunkt liegt natürlich auf Gegenwartskunst. 

Kemfert Würdest Du uns Deine zukünftigen Ausstellungsideen zur Veranschaulichung verraten?

Hendricks Bis vor kurzem lief die Ausstellung The Conversations des Londoner Kollektivs TMLE, kombiniert mit korrespondierenden Positionen aus Frankfurt. Im kommenden September zeigt die Edition Provinz Berlin eine von mir kuratierte Auswahl ihres tollen Programms und stellt zu diesem Anlass drei neue Editionen von Künstler:innen aus Frankfurt vor. Im Herbst kommen dann Greser & Lenz zu einer wilden Retrospektive, in der sie als Künstler präsentiert werden, die sie unbedingt sind. Darauf freue ich mich schon sehr! In 2026 wird es eine Doppelausstellung mit zwei wunderbaren jungen Künstlerinnen geben, Thuy Tien Nguyen und Zhang Wanwen, die ihre Studios in der Frankfurter basis haben. Thuy Tien hat übrigens gerade den Young Generation Art Award von Monopol gewonnen. Wir haben zur Ausstellung eine Kochveranstaltung mit asiatischer Küche vor, zu der wir noch den Künstler Il-Jin Atem Choi einladen, so dass es vietnamesische, chinesische und koreanische Gerichte gibt. Das wird bestimmt spektakulär! Ebenfalls im nächsten Jahr hoffe ich, ein Herzensprojekt umsetzen zu können, das den ambitionierten Arbeitstitel Exquisite Transzendenz trägt und maximal zehn außerordentliche Objekte aus sehr unterschiedlichen Kulturbereichen zusammenbringt, von einem herausragenden kleinen Gemälde von ca. 1550 bis zu einer Falle für Antimaterie. Die Ausstellung soll von Podien mit Teilnehmer:innen aus Kunst, Wissenschaft und Philosophie begleitet werden. Das sind hochfliegende Pläne, am Ende ist es immer entscheidend, die Finanzierung hinzubekommen. Da wird man sehr leicht von den irdischen Gegebenheiten eingeholt. 

Kemfert Das klingt sehr spannend und vielversprechend. Habe ich richtig verstanden, dass Du prinzipiell selbst kuratierst? Ist das Teil Deines Konzepts im H8H?

Hendricks Im Grunde sehe ich mich im H8H eher als Herbergsmutter und möchte den Raum am liebsten Kurator:innen zur Verfügung stellen für deren Projekte. Mir genügt es vollkommen, ein oder zwei Ausstellungen im Jahr selbst zu kuratieren. Es ist aber gar nicht so leicht, motivierte Mitspieler:innen zu finden. Deshalb muss ich zurzeit leider alles selbst machen und bin total geschlaucht. Das muss sich dringend ändern! Ich habe genug mit meiner künstlerischen Arbeit zu tun. 

Kemfert Wie würdest Du Dein Verhältnis als Künstler zum Sammeln beschreiben? Und wie spiegelt sich dies in Deiner Ausstellungstätigkeit in Deinem Projektraum wider?

Hendricks Für mich gibt es nichts Großartigeres als die Begegnung mit einem Kunstwerk, das mich packt und umwirft. Da ist es für mich naheliegend, so etwas auch besitzen zu wollen. Ich genieße jede Beschäftigung mit meinem Sammlungsbestand, wenn ich wieder einmal eine neue Hängung oder spezielle Konstellationen ausprobieren will, und wenn sich in diesem Bestand eine passende Ergänzung für eine Ausstellung im H8H befindet, ist das natürlich eine angenehm einfache Leihgabe.

Kemfert Derzeit ist im Museum Angewandte Kunst (MAK) in Frankfurt die von Eva Linhart kuratierte Ausstellung Text & Spirit zu sehen. Mit welchem Werk bist Du an dieser Ausstellung beteiligt? Warum wurde gerade diese Arbeit ausgewählt? Hat Dein Werk sich im Kontext der Ausstellung verändert oder sogar Bedeutungsebenen der Ausstellung hinzufügt?

Hendricks Die Arbeit heißt Tränen und stammt von 1994–2001, ist also schon älter. Sie besteht aus zwei gläsernen Ballonflaschen, die jeweils 50 Liter Tränen enthalten. Eva Linhart hat dieses Werk für den Kontext „Kunst und Glauben“ gewählt. Da spielen innerhalb von Text & Spirit mit seinen wunderbaren Stundenbüchern vermehrt christliche Motive hinein, aber natürlich auch kunsttheoretische, die nach der Wahrheit von Kunstwerken fragen und unserem Vertrauen in sie. Themen wie Sein und Schein, Wahrheit und Glaube, Wert und Magie, Schmerz und Schicksal spielen in meiner Arbeit ja insgesamt eine große Rolle. Meine erste Führung im MAK hatte übrigens den Titel Tränen lügen nicht. Verändert hat sich Tränen innerhalb von Text & Spirit nicht wirklich, allerdings kommen die christlichen Anteile, die des Schmerzes, stärker zum Tragen als in anderen Ausstellungen. Eva hat sogar die steile These aufgestellt, dass die Spannung meines Werks insgesamt seinen Ursprung im Zusammenprall von Katholizismus und Protestantismus in meinem Geburtsort hat. So christlich hatte ich das noch nie betrachtet und bin auch immer noch am Überlegen, was da wohl dran sein mag. Es ist jedenfalls eine Ehre, dass meine Tränen zusammen mit diesen 24 fantastischen Stundenbüchern und ihrer wundervollen Inszenierung gezeigt werden.