Thomas Erdelmeier

Geboren 1965

studio scholarship der Hessischen Kulturstiftung 2005/2006:
Paris

Thomas Erdelmeier ist mit sehr großen Zeichnungen aus Paris zurückgekehrt. Keine Gnade (Tusche, Lackstift auf Papier, 2006) beispielsweise misst gut vier auf zwei Meter und nennt die Dinge beim Namen: Wer hat Schuld, wenn man scheitert? Der Heilige Geist wohl nicht, jeder ist selber schuld – kein Pardon.

Erdelmeier verzahnt Fragen und Aussagen wie diese mit comicartigen Zeichnungen zu dichten, spannungsgeladenen Bildgeflechten. In deren Epizentrum steht die Suche nach dem individuell Eigenen, dem Zu-sich-selbst-Kommen in den heutigen verwirrend komplexen Informations- und Wirtschaftsstrukturen. Vielleicht ist die Frau am Ruder (Floß, 2006, Gouache auf Papier, 40 × 60 cm) nicht nur im politischen Geschäft die zukunftsweisende Option?

Interview mit Thomas Erdelmeier
Das Gespräch mit Thomas Erdelmeier führte der Kunsthistoriker und Journalist Michael Reitz.

Reitz: Warum wollten Sie ein Jahr in der Cité des Arts in Paris verbringen, in eine Stadt gehen und dort arbeiten, die von Frankfurt aus nicht gerade unerreichbar ist?

Erdelmeier: Zunächst einmal hatte ich den Eindruck, dass die Stadt inspirierend sein könnte. Wie sich herausstellte, war das sehr oberflächlich betrachtet, denn im Nachhinein würde ich das vielleicht gar nicht mehr so unterschreiben. Es war trotzdem ein sehr interessantes Jahr, aus ganz anderen Gründen, die vielleicht mit Paris nicht so viel zu tun haben. Denn das Leben an der Cité des Arts gemeinsam mit ungefähr vierhundert Stipendiaten aus der ganzen Welt hatte so was von einer global community . Es war ein Leben, als sei unser Planet ein Dorf, denn nach einer Weile kannte man nahezu jeden, der dort lebte und künstlerisch arbeitete. Wenn man raus auf den Hof ging, war das wie auf einer polyglotten Gemeindewiese: Japaner, Afrikaner, Australier, alles mögliche. Und das mitten in dieser Metropole, die ja sehr quirlig und extrem laut ist. Dagegen ist Frankfurt ein Luftkurort. Das war das Neue und Interessante für mich, diese Leute kennen zu lernen, unter und mit ihnen zu leben und zu arbeiten. Interessanter als Paris selbst, denn dort passiert nicht mehr soviel in Sachen zeitgenössischer Kunst, wie das früher mal der Fall gewesen ist.

Reitz: Auffallend in den meisten Ihrer Arbeiten ist eine direkte Bezugnahme auf unser Wirtschaftssystem, genauer gesagt, auf dessen negative Auswirkungen und Erscheinungsformen. In Ihre Pariser Zeit fielen auch die Unruhen in den sogenannten Banlieus, den Elendsvierteln – haben Sie davon etwas mitbekommen, hat es Sie als Künstler interessiert? 

Erdelmeier: Das kann ich nicht so genau sagen. Es war so, dass ich in den ersten vier, fünf Monaten sehr mit meinen Eindrücken von dieser Stadt beschäftigt war. Aber irgendwann ging es los, dann konnte ich arbeiten. Ich musste erst realisieren, dass Paris vielleicht auch nicht so interessant ist, es ist zwar eine außergewöhnliche Stadt, aber manchmal kam ich mir dort wie in einem gigantischen Museum vor, dem man das Dach abgenommen hat. Es kommt einem sehr museal vor. Letztendlich ist die gesamte Innenstadt mit reichen Leuten vollgestopft, und an den Rändern fliegen die Fetzen. Damals, als die Unruhen waren, sind wir auch ein paar Mal rausgefahren und haben das mitbekommen. Was bei mir davon zurückbleibt, ist der Eindruck, dass Paris eine Stadt der Extreme ist. Die Touristen kriegen davon natürlich nichts mit, denn die Innenstadt ist eingeschlossen von einem sehr großen Autobahnring, dem sogenannten Peripherique. Eine moderne Stadtmauer, die die Armen von den Reichen trennt. Ungefähr drei Millionen leben innerhalb dieses Grabens, und noch mal fünf Millionen außerhalb. Fünf Millionen nicht am Rand, sondern über den Rand hinaus. Und über diese Grenze gehen die meisten natürlich gar nicht erst, die Paris besuchen. Innerhalb des Peripherique ist Paris eine Stadt wie in Zuckerwatte gepackt, dort ist alles schön hübsch. Und außerhalb gibt es eben Randale und da brennen die Autos.

Reitz: Womit wir bei einem weiterem Leitmotiv Ihres künstlerischen Arbeitens wären: Keine Chance zu haben und deshalb mit Schuldgefühlen konfrontiert zu sein – ein Zusammenhang, der von Max Weber auf der ökonomischen und von Sigmund Freud auf der psychologischen Ebene intensiv analysiert wurde. Vor allem Weber beschrieb die religiösen Prämissen des Protestantismus als strukturbestimmend für unsere Gesellschaften und enthüllte damit die Betriebsgeheimnisse des Kapitalismus: Askese, Genussverzicht und Arbeitsethos. Ohne übermäßig psychologisierend wirken zu wollen: Hat die Beschäftigung mit diesen Zusammenhängen einen Grund in Ihrer Biografie?

Erdelmeier: Ja, natürlich. Ich bin protestantisch erzogen worden, und meine Arbeit ist sicherlich eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Vergangenheit und dem, was man mit Sicherheit bereitwillig nicht so gerne zugibt. Die Konditionierung des Selbst durch religiöse Wurzeln, die sich durch die Eltern vollzieht und materialisiert, die man mit dem Löffel verabreicht bekommen hat, ohne es zu merken. Je älter ich werde, desto mehr fällt mir auf, dass ich mit dieser – salopp gesagt – protestantischen Konditionierung konfrontiert werde, ob es mir passt oder nicht. Weil ich ja gerne das sein möchte, was genau genommen ja nie funktionieren kann: ein subjektives Subjekt.

Reitz: Haben Sie ein Beispiel dafür, inwieweit der verinnerlichte Protestant in dem Künstler Thomas Erdelmeier wütet?

Erdelmeier: Wenn ich nicht arbeite, bin ich unzufrieden mit mir. Faul sein, das geht nicht lange Zeit. Ich mach mir dann selbst Vorwürfe, denn ich habe ein ziemlich gestrenges Über-Ich, obwohl man das auf den ersten Blick bei mir so nicht vermuten würde. Freud hat ja von dem grausamen Über-Ich gesprochen, und diese Art von Konditionierungen, von denen ich spreche, das sind ja Ablagerungen, die sich ansammeln, und dann wie ein innerer Zensor funktionieren. Das Über-Ich repräsentiert verinnerlichte Werte, die von außen an einen herangetragen worden sind, und das müssen ja nicht zwingend nur die Eltern sein. Mir ist eben an mir einiges aufgefallen. Früher hab ich das immer auf die leichte Schulter genommen und geglaubt, dass ich damit nichts am Hut habe, wild bin, mich irgendwelchen Gruppierungen oder Jugendkulturen anschließe. Und nach einer Weile habe ich festgestellt, dass ich da gar nicht so einfach herauskomme. Denn der Umgang mit mir selbst kommt gar nicht authentisch aus mir. Das alles muss ich erst erfinden, und das ist gar nicht so einfach. Diese Konditionierung ist wie eine innere Stimme, die zu einem spricht. Man kann sie nicht ausmerzen, sondern man muss herausfinden, wie man sie umformulieren kann. Das ist der Grund, weshalb ich Zeichnungen mache. Es ist Reflexion und Progression zugleich. Ich versuche mich selbst und den Text, der in mir gesprochen wird, umzuschreiben.

Reitz: Sie platzieren in Ihren Zeichnungen sehr viel Geschriebenes, gleichzeitig ergibt das Bild jedoch immer auch ein Ganzes, man bleibt nicht an den Texten hängen. Was ist für Sie, während des Werdens und der Ausformulierung einer Idee bestimmender, der Text oder das Bild?

Erdelmeier: Für mich sind beide Ebenen wichtig, Bild- und Textebene. Das bedeutet, man kann wie vor einer Wandzeitung, wie vor den großen Zeichnungen oder Diagrammen stehen und sie lesen und gleichzeitig kann man es auch nicht lesen und das Ganze nur als Bild rezipieren. Die Schrift ist gleichzeitig Informationsträger und grafisch – visuelles Element. Wenn die Schrift beispielsweise in einer Sprechblase erscheint und so zum selbstständigen Bildelement wird, ist es mir am wichtigsten, dass das Gefüge aus Text- und Bildelementen zum Schluss tatsächlich ein stimmiges Bild ergibt. Das ist so ähnlich, wie man früher Landkarten gemalt hat: mit groß aufgeblasenen Details. Aber dass man es doch eben als Landkarte oder Bild sehen kann.

Reitz: Ist die Schrift in Ihren Bildern so etwas wie der verborgene Drehbuchtext des Über-Ichs, eine Anweisung dafür, was es jetzt hineinzuplappern hat in das verwobene Geschehen aus Idee, Gestaltung und Betrachtung?

Erdelmeier: Das kann man so sehen, durchaus. Meistens beginne ich mit Zettelkästen, daraus entsteht eine Textsammlung wie auf Karteikarten. Die einzelnen Textblöcke – manchmal ist es auch einfach nur ein Begriff, ein Wort, ein Satz – lege ich dann auf einem Tisch aus, dass es schon mal so eine Art Anordnung ergibt. Der Text ist also zuerst da und dann entstehen die Bildelemente, die jedoch nicht in einer Eins-zu-Eins-Entsprechung den Text illustrieren. Es ist eher so, dass sie manchmal direkt Bezug darauf nehmen, manchmal aber auch nicht, es gibt da keine strengen Regeln.

Reitz: Sie verwenden nicht nur Texte von Max Weber, sondern auch von dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek – zum Beispiel in Ihrem großformatigen Bild Keine Gnade. Nun ist Žižek ein Denker unserer Zeit, der nicht gerade einfach zu verstehen ist, und dessen Theoreme sehr viele Bereiche berühren. Welcher war für Sie wichtig?

Erdelmeier: In Žižeks Buch Die gnadenlose Liebe geht es darum, dass wir mit unseren religiösen Wurzeln angeblich nichts mehr zu tun haben möchten. Gleichzeitig beschreibt er jedoch, dass die Konstitution unseres Subjektseins immer noch stark damit verbunden ist – mehr als wir das offenbar wahrhaben wollen. Ohne es expliziert zu benennen, rekurriert Žižek damit auf die Prädestinationslehre Calvins. Denn der hatte ja einen neuen Gott erfunden, der keine Gnade kennt. Calvins Lehre ist die der Vorauswahl, Gottes Entscheidung ist uneinsehbar, und jedes Individuum, das geboren wird, über das entscheidet Gott vor der Geburt, ob es zu den Auserwählten oder zu den Nichtauserwählten gehört. Das hat in gewisser Hinsicht fatale Folgen, denn der radikale Protestant bleibt auf seiner Schuld sitzen, wenn er nicht tugendhaft lebt. Dem wird nicht vergeben, und Zeit seines Lebens ist er im Ungewissen darüber, ob er zu dem Stand der Auserwählten gehört oder nicht. Der einzige Hinweis, ob man vielleicht zu den Auserwählten gehört, besteht nach Calvin darin, dass man gesellschaftlich erfolgreich ist. Also nicht säuft, nicht tanzt, nicht rumhurt und all die schönen Dinge tut, die Spaß machen. Und natürlich vor allem Geld akkumuliert. Das ist der Punkt, den Žižek aufgreift. Er sagt: Wir können uns zwar darüber lustig machen, auch über den metaphysischen Notausgang der Katholiken, die Beichte; Denksysteme entwerfen, die mit diesem Humbug aufräumen. Aber trotzdem sind wir dem immer noch verhaftet – keine Gnade.

Reitz: Überspitzt gesagt: Der Katholik hat zumindest die Möglichkeit, in der Beichte alles von sich zu geben, während der Protestant auf seinen Magengeschwüren sitzen bleibt. Also doch lieber eine katholische Kolik als eine protestantische Ethik?

Erdelmeier: Da ist was Wahres dran. Das hab ich zum Beispiel bei meinen Eltern gesehen. Mein Vater ist Katholik, meine Mutter und meine Großmutter Protestantinnen, die haben mich auch erzogen. Mein Vater konnte leichter vergeben als meine Mutter.

Reitz: Aber gehört nicht das Gefühl eines schlechten Gewissens dazu, um vor allem künstlerisch weiter zu kommen? In gewisser Weise behauptet das ja auch Slavoj Žižek.

Erdelmeier: Das interessiert mich eigentlich weniger, mir geht es eher um alltägliche Phänomene. Die Zeitgenossen, die mit ihrem schlechten Gewissen herumzuhantieren versuchen, leiden eher darunter als das es ihnen gelänge, ihr Lustempfinden ganz barock oder rokokohaft auszuformulieren. Ich glaube, das ist eher so ein Diskurs unter Diskurshechten. Wenn ich dagegen sehe, mit welcher Verbissenheit Menschen ihre Karrierebemühungen durchboxen – gegen sich, gegen vitale, lebendige Bedürfnisse, dann ist das für mich eine alltäglichere Sache. Wenn man mit zwanghaften Menschen zu tun hat, kommt man ja nicht drum herum, sich mit ihnen auseinander zu setzen – oder? Zumal ich ja auch an mir gewisse Zwänge festgestellt habe, an denen ich arbeite. Letztendlich bleibt einem nichts anderes übrig als seine Neurose zu lieben. Woody Allen ist hierfür ein gutes Beispiel, denn er macht sie zu einer Kunstform.

Reitz: Würden Sie das auch von sich behaupten, dass Sie eine Kunstform daraus machen?

Erdelmeier: Mein Beweggrund, überhaupt Kunst zu machen, hängt mit dem Unbehagen in der Kultur zusammen, auch dem Unbehagen mit mir selbst. Mit dem, was ich nicht bin, mit dem, wer mich geschaffen hat, ohne dass ich bei der Kreation dabei sein durfte. Das Kunstschaffen entsteht aus einer Unzufriedenheit mit sich und der Gesellschaft – finde ich jedenfalls. Für mich ist es relevant, dass ich auf diese Aspekte überempfindlich reagiere und aus diesen idiosynkratischen Neigungen eine Kunstform mache.

Reitz: Noch einmal zu dem protestantischen Genussverbot: Ist es heute nicht eher so, dass der moderne Imperativ lautet: Genieße, und zwar schnell und viel?

Erdelmeier: Ja, das Problem ist nur, dass es nicht aus einem selber kommt, sondern dass es mit der Stimme des Vaters gesprochen wird. Dass per Knopfdruck genossen werden soll. Gleichzeitig wird von uns verlangt, dass wir hart arbeiten sollen. Unsere Gesellschaft zeichnet sich auch dadurch aus, dass es für alles separate Orte gibt. Man arbeitet tagsüber in einer Bank und gibt am Wochenende Vollgas, in so einer Art Serengetipark der Lust. Das ist kein ehrliches triebgesteuertes Verhalten, kein Genuss im eigentlichen Sinne, sondern fast schon ein verordneter.

Reitz: Ihr Aufenthalt in Paris war allerdings nicht verordnet… . In der Rückschau, jetzt, nach knapp einem halben Jahr: Was hat Ihnen der Aufenthalt in Paris, das Stipendium gebracht?

Erdelmeier: Ich bin in einer gewissen Weise selbstständiger geworden und habe mich während der Zeit in Paris auch künstlerisch in einem komplett anderen Zusammenhang erfahren. Ich war meinem Freundeskreis entrissen, denn ich war kaum in Frankfurt, sondern war fast die ganze Zeit in Paris. Ich habe das sehr ernst genommen. Es war wirklich ein Erlebnis, das man eigentlich fast jedem empfehlen kann, egal aus welcher Berufssparte. Mal ein, zwei Jahre ins Ausland gehen und sich dort neu erfahren können. Es kann nie schaden, sich in eine neue Umgebung einfinden zu müssen, so anstrengend das auch am Anfang ist.

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