© Wallstein Verlag, Magdalena Kaszuba
Cover des Katalogs zur Ausstellung Kinderemigration aus Frankfurt , Umschlagbild: Magdalena Kaszuba, 2021 ©



getrennt

An der Kreuzung von Kaiserstraße und Gallusanlage – auf einer Sichtachse mit dem Frankfurter Hauptbahnhof – erinnert seit dem letzten Spätsommer das Waisen-Karussell der Künstlerin Yael Bartana an die Flucht zahlreicher jüdischer Kinder vor der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland. Rund 20 000 Kinder flohen mit der Hilfe eines gut organisierten Netzwerks von Helfer*innen zwischen 1938 und 1939 mit eigens organisierten Zügen ins Ausland. Sie mussten ihre Eltern in Deutschland zurücklassen. Oft sahen sie sie nicht wieder.

Nach der Trennung erwartete die Kinder eine unsichere Zukunft in England, den USA, Palästina und anderen Ländern, die ihnen unter teilweise strengsten Auflagen die Einreise erlaubten. In einer aktuellen Ausstellung im Deutschen Exilarchiv werden diese diversen Flucht-, Lebens- und Leidensgeschichten anhand von sechs Porträts nachgezeichnet. Daneben stehen historische Quellen und Objekte, die von der Organisation der Flucht und ihren Folgen berichten. Ausstellung und Katalog finden einen Weg zwischen historischer Aufarbeitung und einfühlsamer Erinnerungskultur. Neben der historischen steht gleichberechtigt die emotionale
Dimension der Fluchterfahrung, die sich in Graphic Novels mit den individuellen Erfahrungen der Zeitzeugen auseinandersetzt.

In W. G. Sebalds Roman Austerlitz, dessen Protagonist selbst Kind einer der Transporte war, ringt Austerlitz als Gesprächspartner des Erzählers um die Zusammenhänge von Leben, Erinnerung und sichtbarer Gegenwart. Eine seiner Beobachtungen beschreibt er als das „Gravitationsfeld der vergessenen Dinge“, in dem sich die Strömung der Zeit verlangsame.

Betritt man das Waisen-Karussell, kündigen seitlich angebrachte Abschiedswünsche – „Auf bald, mein Kind!“, „Auf Wiedersehen Mutter“, „Auf Wiedersehen, Vater“ – eine Leerstelle an, die wir mit unserer Interaktion spiegeln. Versucht man aber, das Spielgerät zu benutzen, bewegt es sich nur schwerfällig und wie in Zeitlupe. Durch Gewichte im Innern hat es die Leichtigkeit eines Kinderkarussells eingebüßt. Es entsteht ein Erinnerungsmoment zwischen Schmerz und Hoffnung, das mit dem Karussell physisch erlebbar gemacht und zur Reflexion angeboten wird.

„Und wäre es nicht denkbar“, bemerkt Austerlitz im Roman weiter, „dass wir auch in der Vergangenheit, in dem, was schon gewesen und größtenteils ausgelöscht ist, Verabredungen haben und dort Orte und Personen aufsuchen müssen, die quasi jenseits der Zeit, in einem Zusammenhang stehen mit uns?“ Diesem Zusammenhang widmen sich Ausstellung und Katalog, und er ist es auch, den das Waisen-Karussell in unsere Gegenwart heben soll.

 

  • Deutsches Exilarchiv 1933–1945 / Kulturamt Frankfurt
  • Kinderemigration aus Frankfurt
  • bis 15. Mai 2022
  • Adickesallee 1, 60322 Frankfurt am Main
  • Mo—Fr 9—21.30 Uhr, Sa 10—17.30 Uhr
  • (um Anmeldung wird gebeten)
  • www.dnb.de