Inkjetprint, Aluminium, Epoxidharz, 167x120 cm, Courtesy Lucie Stahl und dépendance, Brüssel © Lucie Stahl
Lucie Stahl: Identity, 2015 ©
Inkjetprint, Aluminium, Epoxidharz, 167x120 cm, Courtesy Lucie Stahl und dépendance, Brüssel © Lucie Stahl
Lucie Stahl: Legacy, 2015 ©
© Lucie Stahl
 Lucie Stahl: Straßenansicht Roman Road. London, 2016 ©



stipendiatin
lucie stahl

Lucie Stahl (* 1977) hat an der Universität der Künste in Berlin, der Glasgow School of Art sowie der Städelschule in Frankfurt studiert, wo sie 2005 als Meisterschülerin bei Michael Krebber abgeschlossen hat.

In ihren Arbeiten – neben Skulpturen und Fotografien meist mit Polyurethan übergossene Poster vergrößerter, eingescannter Assemblagen – kombiniert sie unterschiedliche Alltagsgegenstände, Zeitungsausschnitte, Werbung oder Flüssigkeiten, sowie selbstgeschriebene Kommentare zu sozialen oder politischen Situationen, die sich durch die stark aufgeladene Setzung der Dinge einer eindeutigen Lesart entziehen.

Die in Berlin lebende Künstlerin hat für ein Jahr im Londoner Atelier der Hessischen Kulturstiftung gewohnt, wo sie unter anderem ihren Beitrag für die Lyon Biennale 2015 entwickelt hat. Außerdem hat sie an verschiedenen Einzelausstellungen gearbeitet, die für 2016 in Vorbereitung sind: im Juni in der Halle für Kunst in Lüneburg und im September im Dallas Museum of Art.

Über ihre Zeit in London hat Lucie Stahl einen künstlerischen Text verfasst, den wir hier gemeinsam mit Arbeiten vorstellen, die sie bei der Lyon Biennale 2015 präsentiert hat.

Die Künstlerin wird von den Galerien dépendance in Brüssel, Freedman Fitzpatrick, Los Angeles, Gio Marconi, Mailand, Neue Alte Brücke in Frankfurt am Main und Meyer Kainer in Wien vertreten. Zuletzt ist 2011 anlässlich ihrer Ausstellung mit Běla Kolářová im Kölnischen Kunstverein der Katalog Lucie Stahl, Plakate Poster erschienen.

Zwischen Housing Crisis und Flat White

Wie oft hat man sich das nicht schon gegenseitig eingestanden, die Köpfe einander verschwisternd über den weichen, hellbraun schimmernden Schaum des Flat White zugeneigt, glücklich, dass jetzt auch hier dieses neue Café aufgemacht hat, wo der Kaffee zwar 2,40 €, $ oder £ kostet, dafür aber eben auch fantastisch schmeckt.

Die Gegend im Osten Londons, genauer, Bow, und vor allem die Roman Road, ist vielleicht dieses Jahr die perfekte Straße gewesen, um die Veränderungen, die diese vielbeschriene Gentrifizierung mit sich bringt, direkt in einem Ausmaß und in einer Schnelligkeit zu beobachten, welche irgendwie doch erschreckend ist. Meine Zeit hier in dem Haus in der Lyal Road, die an die Roman Road grenzt, überschneidet sich vielleicht mit dem Moment, in dem es hier irgendwie noch und schon alles gibt – Fish and Chips Shops, die einen mit hochgesättigten oder ausgeblichenen Bildern der angebotenen Gerichte locken, und aus denen einem der Geruch von Fritierfett wie eine Wand entgegenschlägt; Real Estate Agencies, die mit ihren immer roten, dem menschlichen Po futuristisch angepassten Plastikhockern wie Pilze aus dem Boden schießen; kleine neue Cafés, vor denen handbeschriebene Schilder mit der Aufschrift ‘You can’t buy HAPPINESS but you can buy COFFEE, and that’s kind of the same thing’ stehen, und die neben Skinny Latte oder Cappucchino auch Avocado Toast und poached eggs anbieten. Der Pound Store grenzt an Vinarius, der seinen Wein aus Italien und Frankreich von kleinen Herstellern importiert, nebenan gibt es Eel, Mash and Pie von G. Kelly, in einem Interieur, welches so schön und alt und original ist, dass ein japanischer Sushi-Chef nun dort sonntags ein Pop-Up Restaurant eröffnet, wenn der Pie Shop geschlossen ist. Dann wieder Real Estate. Und so weiter und so fort.

Einen Großteil der Gegenstände, Themen und Gedanken, die ich akkumuliere, um sie vielleicht irgendwann in meine Arbeit zu integrieren, finde ich auf der Straße, in meiner direkten urbanen Umgebung.

Straße kann hier vieles bedeuten – ein Bild oder Artikel, aus einer Zeitung in der U-Bahn ausgerissen; eine abfotografierte Werbung auf der Litfaßsäule; ein bei Harrods in der Spielzeugabteilung oder im Charity Shop gekaufter Gegenstand genauso wie tatsächlich etwas, das vom Bordstein aufgelesen wurde.

Die Idee des Fritierfettgeruchs wird vielleicht genauso einen Weg in meine Arbeiten finden wie die roten Plastikhocker; der Pioniergeist, der einem gemeinsam mit dem warm-süßlichen Duft von Flat White und selbstgemachtem Zucchini-Chia Seed-Kuchen aus dem neuen schwedischen Eckcafé entgegenschlägt, reibt sich mit den hochsaturierten Wänden aus Waschmittel- und Zerealienverpackungen im Pound Store; die dort im Januar aufgetürmten Haufen aus halbzerstörten Schokoladen-Weihnachtsmännern wiederum rufen den Skandal um die Brooklyner Mast Brothers in Erinnerung. Die Gesprächsfetzen über das Prekariat, Zwischennutzungen und die Rückeroberung der Stadt vermischen sich mit den Aluminiumsalzen von Deodorants und gehen eine seltsame Verbindung ein. Die Abbildung auf der Volvic-Flasche, die eine Art Management-Training bewirbt, erinnert auf so unangenehme Weise an die Flint-Wasserkrise, dass es weh tut.

Diese Dinge und Zustände spiegeln die Zeit, in der wir leben, und ihre absurden, lustigen, lächerlichen, schwierigen, traurigen oder frustrierenden Auswüchse. Coca Cola vs. Basisches Wasser, Urban Gardening vs. Home Depot, Wertneutralität vs. Meinungspolarität.

Lucie Stahl, 2016