© Tarek Atoui und Tate Modern, Foto: Thierry Bal
Tarek Atoui: Waiter’s Witness, Ansicht der Performance The Reverse Collection, 2014–2016 in den Tanks, Tate Modern, London, 2016 ©
© Tarek Atoui und Tate Modern, Foto: Thierry Bal
Tarek Atoui: Waiter’s Witness, Ansicht der Performance The Reverse Collection, 2014–2016 in den Tanks, Tate Modern, London, 2016 ©
© Solomon R. Guggenheim Foundation, Foto: Enid Alvarez
Robert Aiki Aubrey Lowe, C. Lavender, Keith Fullerton, Chuck Bettis, C. Spencer Yeh, Tarek Atoui and Victoria Shen: Ansicht der Performance Organ Within, Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 2019 ©



441 Hz

Wie klingt ein zerstörtes Klavier? Es gibt keinen Ton mehr von sich. Es klingt kein wahrnehmbares Geräusch mehr nach von dem Moment, in dem es aus einem Hochhaus fallend auf dem Boden aufschlug, eine lange Treppe tonreich nach unten sich verabschiedete oder mit dem Beil in seine Einzelteile zerlegt wurde. Während Stille unlösbar verknüpft scheint mit Stillstand, Bewegungslosigkeit, sind Ton und Geräusch ihrerseits mit Bewegung und Aktivität assoziiert. Das Klavier also liegt immer noch still und tonlos vor uns, trotzdem hallt seine Zerstörung in uns mit einer Vorstellung, einem inneren Ton nach. Wir erblicken den Haufen Holz, Seiten, Filz und vermuten, wie seine Zerstörung geklungen haben könnte, wie die Bewegung, die es zum Klingen brachte, zu einem Stillstand gekommen ist. Je nachdem, an was unser Gehör seine Vorstellung geschult hat – frühe Slapstick- oder Zeichentrickfilme, Aktionen der Fluxus-Künstler – entsteht ein anderes, ein anders konnotiertes Geräusch.

Was die einen als Sinnbild zerstörter Kultur deuten, als antibürgerlichen Krach, ist für andere das Bild einer neuen Form ästhetischen Ausdrucks, der die Grenzen zwischen Musik und bildender Kunst überspringt. Spätestens seit der italienische Futurist Luigi Russolo 1913 in seinem Manifest L’arte dei rumori (Die Kunst der Geräusche) den Maschinenklang zum Sound der Moderne erklärte und seine Geräuschmaschinen selbigen künstlich hervorbrachten, sind Geräusch, Klang und ihre Erzeugung Teil der bildenden Kunst.

Sie gewinnen als Klangkörper und Instrument für Architektur und Skulptur eine räumliche und zeitliche Dimension, die in ihrer Erlebnisqualität Authentizität, absolute Präsenz und kollektive Wahrnehmung erfahrbar machen. Mit dem Beginn der 1950er Jahre hat sich die Klangkunst mit Repräsentanten wie Jean Tinguely, Nam June Paik oder Rebecca Horn (sie haben die Bewegung, Wahrnehmung von Zeit und Raum zum Thema) als eigene Kunstsparte etabliert. Man darf das Interesse der Künstler an Klängen abseits hergebrachter Wahrnehmungsmuster als Geburtshelfer der Performancekunst bezeichnen – hier muss der Name John Cage fallen – und als Motor für technische und digitale Innovationen, die eine ganz neue Erzeugung, Steuerung und Archivierung von Klängen ermöglichen.

Der aus Beirut stammende und heute in Paris lebende Künstler Tarek Atoui (*1980) hat sich nach seinem Studium der Elektroakustischen Musik und Komposition in Reims der bildenden Kunst zugewandt. In Atouis Werk herrscht eine vibrierende Spannung im Verhältnis von Klang und Form, gemeinsamer Aktion und individuellem Ausdruck. In seinen teilweise filigranen, skulpturalen Instrumenten schwingt bereits ein Klang mit, den er im Zusammenspiel seiner netzwerkartigen orchestralen Inszenierungen mit Musikern und Publikum zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis formt. Er untersucht die sinnlichen Eigenschaften von Klängen und Geräuschen, die Bedingungen ihrer Wahrnehmung und ihrer Entstehung in sinnlichen, sozialen und historischen Kontexten. In der Überlagerung dieser verschiedenen Aspekte eines Geräuschs entwickelt Atoui, häufig gemeinsam mit anderen Künstlern und Mitarbeitern, Instrumente, die eine physische Repräsentanz dieses vielschichtigen Klangs bilden.

Als ein Ergebnis seiner Performances besitzt Atoui eine umfangreiche Datenbank mit Klängen, Tönen und Geräuschen, die er Computerprogrammen als Klangquellen zur Verfügung stellt. Hier tritt Atoui als Solokünstler hinter ein Misch- oder Schaltpult, mit dem er intellektuell, physisch und sinnlich interagiert. Dieses Interface, das Atoui bedient und das nach wechselnden Prinzipien reagiert, repräsentiert dabei weniger einen Klang als die direkte, spontane Auseinandersetzung mit dem Klangfeld und der Geräuschfülle des computergenerierten Musters. Hier schichtet der Künstler seine Recordings, verwebt zeitlich und räumlich getrennte Klänge zu einem neuen, ephemeren Ereignis. Dabei macht Atoui seinen eigenen Körper zum Klangbild musikalischer Erfahrung.

Im Fridericianum ist dieser spannende Künstler, der zuletzt den hoch dotierten Flag Art Foundation Price gewonnen hat, in seiner ersten großen Einzelausstellung in Deutschland zu sehen.

 

  • Tarek Atoui
  • Fridericianum
  • Friedrichsplatz 18, 34117 Kassel
  • Telefon +49 561 7072720
  • Öffnungszeiten: Di – So und an Feiertagen 11 – 18 Uhr
  • www.fridericianum.org