© Brüder-Grimm-Haus, Sammlung Dathe
Meinholds Märchenbild Nr. 1: Rotkäppchen (KHM 26) (97 × 66 cm), Entwurf Felix Elßner, 1903 ©
© Brüder-Grimm-Haus, Sammlung Dathe
Meinholds Märchenbild Nr. 5: Die Bremer Stadtmu­sikanten (KHM 27), (97 × 66 cm), Entwurf Felix Elßner, 1903 ©
© Brüder-Grimm-Haus, Sammlung Dathe
Der neue Schulmann, Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) (85 × 56,5 cm), Entwurf Marianne Scheel, 1962 ©



verwandelt

„Hast du die schönen Blumen nicht gesehen, die im Walde stehen? Warum guckst du nicht einmal um dich? Ich glaube, du hörst gar nicht darauf, wie die Vöglein lieblich singen, du gehst ja für dich hin, als wenn du im Dorf in die Schule gingst, und ist so lustig haußen in dem Wald.“ Ganz ohne Es war einmal wissen wir, dass es der Wolf ist, der spricht. In Deutschland redet er Rotkäppchen an, während er in Frankreich Chaperon rouge verführt, die auf dem Weg zur Großmutter ihrem jeweiligen Schicksal entgegengehen. Denn je nachdem, welches der roten Käppchen wir begleiten, finden wir zu einem anderen Ende.

So legt sich Chaperon rouge – Charles Perrault publiziert 1697 als einer der ersten das Märchen in seinen Contes de ma mère l’Oye für den Versailler Hof – nackt zu dem Wolf ins Bett und wird verschlungen. Rettung gibt es keine. Bei Ludwig Tieck, der 1800 in seinem Versdrama Leben und Tod des kleinen Rotkäppchen den Wolf am Ende erschießen lässt, sind wir schon fast bei dem schaurig-wohlen Ende, wie wir es aus den erstmals 1812 zu wissenschaftlichen Zwecken publizierten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm kennen: Großmutter und Rotkäppchen werden zwar gefressen, entsteigen dem Magen des Untiers aber dank des Jägers glücklich und am Stück.

Die Märchenforschung, die den erwähnten noch zahlreiche weitere, teils pagane und kannibalistische Varianten hinzufügen kann, zeichnet ein differenziertes Bild vom Märchen, seiner moralischen und ideologischen Indienstnahme, seiner Rezeption und Erweiterung im Laufe der Zeit. Ein Forschungsfeld, dessen Darstellung sich auch das Brüder-Grimm-Haus in Steinau verschrieben hat. Dank des Ankaufs der Sammlung Dathe mit 160 Märchenschulwandbildern aus allen bedeutenden Verlagen im deutschsprachigen Raum, darunter C. C. Meinhold & Söhne aus Dresden oder F. E. Wachsmuth in Leipzig, lässt sich dort nun die ganze Bandbreite märchenbasierter Grundschulpädagogik bis in die 1960er Jahre darstellen und im Kontext ihrer Zeit verorten.

Schließlich bereichern die Märchen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts den Ort, den der Wolf in seinen Worten an Rotkäppchen mit so viel Abschätzigkeit beschreibt: die Schule. Im Märchen heißt es dann weiter: „Rotkäppchen schlug die Augen auf, und sah, wie die Sonne durch die Bäume gebrochen war und alles voll schöner Blumen stand.“ Die fantastische Märchenfigur des „bösen Wolfs“ öffnet dem Mädchen die Augen für die Welt um es herum. Was im Märchen der Ablenkung dient und zu einem bösen Ende führt, setzt sich die Reformpädagogik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum Ziel: die kindliche Fantasie für den Unterricht zu aktivieren. Dabei soll das Märchen als pädagogisches Instrument dienen. Neben der Märchenlektüre zieren wohl ab 1903 – auch dank des neuen, preiswerten Druckverfahrens der Chromolithografie – zahlreiche Märchenschulwandbilder die Klassenzimmer. Die großformatigen Drucke waren zur Verschönerung gedacht und dienten dank ihrer künstlerisch gestalteten Form der kindgerechten ästhetischen Erziehung und Sprachförderung.

Aber vor allem galt das Märchen den Reformpädagogen als Entsprechung des fantasievollen Seelenlebens der Kinder, an deren Neugierde und Lernbereitschaft die Bilder appellieren sollten. Dabei dienten die Märchenfiguren auch als Gefäß für ethisch-moralische, lebensweltliche oder ideologische Ansichten, die der Lehrer den pädagogischen Begleitheften entnahm. Ein beängstigendes Beispiel hierfür ist der Prinz aus dem Verlag Der praktische Schulmann aus dem Jahr 1936, der Dornröschen mit dem Hitlergruß „erweckt“, wie der Begleittext propagiert.

Formal sind zahlreiche Tafeln zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Stil biedermeierlicher Kunst und des Jugendstil als Triptychen angelegt oder erinnern in ihrer Aufteilung an eine comicartige Bildstruktur, in der sich um eine prägnante Hauptszene durch Rahmen abgeteilte Stationen der Geschichte gruppieren. Später kommen auch prägnante Einzelbilder hinzu. Die Verlage legten dabei großen Wert auf eine künstlerisch anspruchsvolle, kindgerechte Gestaltung mit einem leicht zu erfassenden Bildaufbau und atmosphärischen Details.

So verführten die Märchenschulwandbilder bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg zur Bildung, vermittelten moralische oder lebensweltliche Antworten. Inwieweit dieser reformpädagogische Ansatz die kindliche Fantasie domestizierte und subversive oder tiefenpsychologische Strukturen der Märchen ignorierte, lässt sich ebenfalls anhand dieser spannenden Sammlung diskutieren.

  • Märchenschulwandbilder der Sammlung Dathe
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