editorial

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

man muss dem Volksmund widersprechen, denn auch im Mai ist nicht alles Wonne. „Auch der Mai tut weh“, heißt es in Erich Kästners Naturgedicht auf den „Mozart des Kalenders“, nämlich dann, wenn die Freude, die im Schönen liegt, wie „verblühter Schnee“ verfliegt. Kaum hat der Mai alles neu gemacht, ist der blühfrische Zauber wieder vorbei – im Nu „wird aus Heute Gestern“. Das vergängliche Werk des Mai fügt der Freude die Melancholie hinzu – eine Ambivalenz des Schönen, von der der Dichter spricht.

Dass auch prosaische Dinge weh tun, war früher und ist dieser Tage so, selbst im Mai. Für die kurze Flucht ins Irgendwo erfand wiederum Erich Kästner den „35. Mai“ im gleich­namigen Roman als einen fantastischen Tagesritt in die Südsee. Warum nicht als Aufforderung verstehen? – Dieses Datum für ein wenig Eskapismus und Perspektivwechsel lässt sich variabel setzen wie das Ziel.

Man muss nicht erst in die Ferne ziehen, nicht auf die „Burg zur großen Vergangenheit“ und in die Südsee, um die Welt in einem anderen Spektrum zu sehen. To see the World in a Grain of Sand – unter diesem Titel bringt der Mai die Kunst in die Wetterau, in das spätbarocke Schloss Assenheim. Ehemalige Stipendiat:innen der Stiftung präsentieren dort ihre Arbeiten zum Thema Natur. Die künstlerischen Positionen zeigen, dass Natur und Welt als ambivalent erfahren werden, wo deren Schönheit und Kreislauf im Konflikt mit den Dynamiken unserer Zeit sind.

„Weltflucht“ ist ein bestimmendes Moment im Leben und Werk des Malers Oskar Zwintscher, dem das Museum Wies­baden eine Ausstellung widmet. Um 1900 mit seiner Kunst international verortet, lebte er abgekehrt vom Großstadt­geschehen. Mit maienschöner Bowle-Stimmung verbrämt er die Welt um seinen Arbeits- und Rückzugsort: „Zu Meißen auf dem alten Schloß / Sitz ich beim Maientranke, / Tief unter mir der Menschen Troß / In Werkeltagsgezanke. / Hoch über mir, so still, so blau / Des Himmels heiße Weide, / Rings Gärten, Hügel, Tal und Au / Im weißen Blütenkleide.“ Beim Trinken, so der Titel des längeren Gedichts, wird die besagte Maienwonne zur heiter-träumerischen Stimmungskulisse für ein Sinnieren über die verrinnende eigene Zeit. Eine emotionale Ambivalenz, die auch in Zwintschers Bildern zum
Ausdruck kommt.

Einen Zeitgewinn bringt jener Extratag, der den Kalender mit einem besonderen Erlebnis bereichert. Für den Maitag übermorgen, im Juni, Juli oder später versammelt diese Ausgabe des maecenas nähere und fernere Ziele sowie Themen, die nachdenklich oder staunen machen.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre.

Eva Claudia Scholtz
Geschäftsführerin der
Hessischen Kulturstiftung